Mäuseleben oder Geld?
Eine große Studie zeigt: Der Markt zerstört die Moral. Konkret: Die Anonymität des globalen Marktes verstärkt unmoralisches Handeln. Bei der Untersuchung, die aktuell im Wissenschaftsmagazin Science veröffentlicht wurde, geht es um junge Mäuse, die des Geldes wegen in den Tod geschickt wurden.
Das tolle T-Shirt beim ersten Discounter war ja mal wieder unschlagbar günstig. Schnell gekauft und bloß keine Gedanken darüber machen, unter welchen Bedingungen es wohl in Bangladesch in Industrieruinen von vollkommen unterbezahlten Frauen zusammengenäht wurde. Die drei Nackensteaks vom Rind preist die Werbung beim nächsten Discounter so unschlagbar günstig an, dass man kaum widerstehen kann. Da sind die Bilder aus der letzten erschreckenden TV-Dokumentation über Massentierhaltung schnell wieder aus dem Gedächtnis getilgt und in die Löschtrommel geworfen. Hauptsache billig! Ein Forscher aus Bonn hat jetzt den seltsamen Zusammenhang von Markt und nicht existierender Moral bei Kaufentscheidungen in einer Reihe von Experimenten belegt. Mit lebenden Mäusen, deren Tod ohnehin besiegelt war. Das allerdings erfuhren die Teilnehmer der Experimente erst nachdem sie sich zahlreich für das Geld auf Kosten eines Mäuselebens entschieden hatten.
1000 Studenten erhellen den Zusammenhang von Markt und Moral
1000 Studenten kamen im Frühjahr 2012 zusammen, um den Zusammenhang von Markt und Moral zu erhellen. Der Wirtschaftswissenschaftler Armin Falk lehrt am Laboratorium für angewandte Wirtschaftsforschung der Uni Bonn und hat sich gemeinsam mit der Bamberger Wirtschaftsprofessorin Nora Szech an eine Studie heran gewagt, die wohl noch viel diskutiert werden wird. Die beiden Wissenschaftler mieteten sechs Säle im Bonner Konzerthaus direkt am Rhein und installierten dort knapp 200 Notebook-Computer. Dann waren die Studenten an der Reihe. Es gab zwei Experimente. Im ersten Experiment sollten die Teilnehmer am Bildschirm ganz simpel über zehn Euro für ihre Hosentasche oder das Fortleben einer Maus entscheiden.
Verzichten sie auf die zehn Euro, zahlt das Team um Armin Falk den Unterhalt für das Tier, bis zu seinem natürlichen Tod, nehmen sie das Geld, wird das Tier vergast. Eine einfache Ja-Nein-Fragestellung also. Die Teilnehmer wussten auch, dass die Maus, über sie richteten, noch ein junges und gesundes Tier war, mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von zwei Jahren. Das für sich schon erschreckende Ergebnis: Fast die Hälfte der Studenten (45 Prozent) schickte die Mäuse für die „Mäuse“ in die Gaskammer.
75 Prozent schickten die Mäuse in den Tod
Soweit, so unmoralisch. Doch dann kam der Markt ins Spiel. Im zweiten Experiment wurden die Studenten in eine Gruppe von „Verkäufern“ und in eine Gruppe von „Käufern“ eingeteilt. Jedem Verkäufer wurde eine Maus anvertraut, jeder Käufer erhielt 20 Euro. Und dann ging es munter ans Verhandeln. Mit sehr schlechten Resultaten für die am Experiment beteiligten und in der Wirklichkeit immerhin noch lebenden Mäuse. 75 Prozent der Teilnehmer entschieden sich in den Marktverhandlungen für das Geld und somit gegen die Maus. Also noch einmal 30 Prozent mehr, als bei der Einzelentscheidung: Geld oder Maus.
Für die beiden Forscher ist das Ergebnis ein ziemlich exakter Spiegel der Markwirklichkeit. Sie vergleichen ihr Experiment mit dem Alltag der Verbraucher in Deutschland. In Umfragen erklären immer wieder viele Bürger, dass sie strikt gegen Kinderarbeit oder Tierquälerei seien. Doch dann, ganz konkret bei der Kaufentscheidung im Geschäft, ignorieren sie recht konsequent diese selbst propagierten moralischen Werte, kaufen doch billiges Plastikspielzeug, billige Textilien oder billigstes Fleisch im Supermarkt. „Wenn mehrere Akteure beteiligt sind, wird es offenbar einfacher, seine moralischen Standards zurückzustellen“, interpretiert Nora Szech die Ergebnisse.
Markt funktioniert als kollektive Sünden-Gemeinschaft
Im Prinzip stiftet der Markt eine Art kollektive Sünden-Gemeinschaft. Die Schuld wird leichter, wenn sie auf viele Schultern lastet. „Händler verweisen in diesem Zusammenhang gern auf den Spruch: Wenn ich nicht kaufe oder verkaufe, tut es jemand anderes“, sagt Falk. Der Markt schafft eine große Distanz zwischen Käufern und den Folgen ihrer Kaufentscheidung. „Wir würden in Deutschland nie eine Firma akzeptieren, die unter solchen Bedingungen T-Shirts produziert wie manche Firmen in Bangladesch“, sagt Armin Falk. Aber Bangladesch ist ziemlich weit weg, die realen Bedingungen der Warenproduktion bekommt hierzulande niemand wirklich mit. Den Rest erledigt die Werbung mit ihren bunten Bildern einer vorgegaukelten heilen Welt. .
Eindeutiges Ergebnis: Der Markt versaut die Moral
Und genau das bilden die Experimente ab: Der Markt versaut die Moral. Denn in der Marktsituation wurde um die anfangs vorhandenen 20 Euro verhandelt. Alle am Experiment beteiligten Studenten konnten anonym von ihrem Notebook-Computer einen Preis vorschlagen. Eine klassische Marktsituation also: Ein Käufer macht einen Preisvorschlag, der Verkäufer akzeptiert, schlägt in den Handel ein. In diesem Fall wurden die 20 Euro zwischen Verkäufer und Käufer exakt so aufgeteilt – und eine weitere Maus war tot. Eine Runde endete jeweils dann, wenn keine Angebote mehr kamen. Nach diesem Muster veranstalteten Falk und Szech insgesamt zehn Runden.
Zum Teil lassen die Ergebnisse tief in die moralisch-ethische Grundausstattung der Studienteilnehmer blicken. „Es gab tatsächlich viele, die das selbst für 100 Euro nicht gemacht hätten“, sagt Armin Falk. „Und es gab Unterschiede: Frauen haben zum Beispiel weniger Deals abgeschlossen als Männer. Vegetarier weniger als Fleischesser, politisch links Stehende weniger als Rechte. Auch Menschen mit einem hohen Intelligenzquotienten haben eher die Maus leben lassen und dafür auf das Geld verzichtet.“
Teilnahme am Marktgeschehen war vollkommen freiwillig
Niemand war gezwungen, am Feilschen um die 20 Euro gegen das Leben einer Maus teilzunehmen. Trotzdem folgten aber drei Viertel der Teilnehmer der Verlockung des Geldes. Und das in Kenntnis der Konsequenz: Geld gegen Mäuseleben. Dabei sank der Preis im Durchschnitt in allen zehn Marktsimulationen auf 6,40 Euro. Und der Preis sank von Runde zu Runde: Am Ende war den Verkäufern das Leben der ihnen anvertrauten jungen und gesunden Maus mit einer Lebenserwartung von rund zwei Jahren noch nicht einmal mehr fünf Euro wert.
In der Realität haben die Mäuse des Marktexperiments diesem ihr Leben zu verdanken. Armin Falk erfuhr durch Zufall von einem Medizinforscher, dass es Labore gibt, die massenhaft genetisch veränderte Mäuse für diverse Experimente züchten – und aus Kostengründen diejenigen wirklich vergasen, bei denen die jeweils angestrebte Manipulation versagt. Eines dieser Labore wurde dann Partner für das Experiment von Armin Falk und Nora Szech. „Ich hätte das nie gemacht, wenn wir eigens dafür hätten Mäuse züchten müssen“, beteuert Wirtschaftswissenschaftler Falk.
Von den Probanden aber wusste keiner, dass ohne das Experiment alle Mäuse vergast worden wären. Einige dieser Gen-Mäuse haben jetzt ein hoffentlich schönes Mäuseleben – finanziert von Armin Falk und seinem Team.
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