Rätsel um tote Studenten: Lawinen-Forscher liefern neue Hinweise
1959 starben 9 Frauen und Männer bei einer Skitour auf mysteriöse Weise. Wurden sie Opfer von Experimenten? Jetzt gibt es neue Hinweise – doch es bleiben Rätsel.
Das Unglück am Djatlow-Pass gehört bis heute zu den größten Rätseln in der Geschichte der Sowjetunion. Neun junge Menschen kamen im Jahr 1959 bei einer Skitour im Uralgebirge ums Leben. Ihre Körper zeigten zum Teil äußerst merkwürdige Verletzungen auf: Gebrochene Rippen, abgetrennte Zungen, fehlende Augäpfel.´Was den jungen Frauen und Männern genau widerfahren war, konnte nie ganz geklärt werden. Zahlreiche Theorien und Mythen ranken sich seitdem um den tragischen Vorfall: War es eine Lawine? Sind die Studentinnen und Studenten Opfer von Militärexperimenten? Wurden Sie ermordet? Sogar vor Ufos und dem Yeti machten Verschwörungstheoretiker nicht Halt.
In den letzten Jahren war der Fall in Vergessenheit geraten. Doch jetzt konnten Schweizer Forscher Licht ins Dunkel bringen und sind der Lösung des Rätsels vom Djatlow-Pass einen Schritt näher gekommen. In einer Studie fanden die Wissenschaftler der EPFL Lausanne und der ETH Zürich eine mögliche Erklärung für den grausamen Tod der neun Menschen.
Lawine: Keine Spuren bei der Untersuchung des rätselhaften Falls
Die russische Generalstaatsanwaltschaft hatte den mysteriösen Fall Ende 2019 auf Bitte der Hinterbliebenen aus den Tiefen der sowjetischen Archive gehoben. Die Faktenlage: eher dünn. Spuren einer Lawine, die damals abgegangen sein könnte? Fand man nie. Was bekannt ist: Am 27. Januar 1959 brach eine eine zehnköpfige Gruppe von Studierenden des Polytechnischen Instituts des Uralgebiets zu einer 14-tägigen Ski-Expedition auf. Das Ziel der Gruppe unter der Leitung des des 23-jährigen Igor Djatlow war der Berg Gora Otorten im Norden der Oblast Swerdlowsk.
Die jungen Leute hatten sich eine durchaus heraufordernde Strecke ausgesucht, zumal zu dieser Jahreszeit bei Temperaturen von bis zu Minus 30 Grad. Bereits am 28. Januar beschloss einer der Teilnehmer, Juri Judin, umzukehren. Er war der einzige Überlebende aus der Gruppe und sollte seine Begleiter nie mehr wiedersehen.
Flugzeug im Gletscher: Forschern gelingt Durchbruch
Opfer wurden am „Berg des Todes“ gefunden
Als die anderen neun Teilnehmer nicht auftauchten, begann eine ausgedehnte Suchaktion. Am 26. Februar schließlich fand ein Rettungsteam die Leichen der Expeditionsteilnehmer am Hang des Berges Cholat Sjachl – in der Sprache der Mansen, einem dort beheimateten finnisch-ugrischen Volksstamm, bedeutet der Name soviel wie „Toter Berg“ oder „Berg des Todes“.
Die Retter fanden zunächst das schwer beschädigte Zelt und die Ausrüstung der Expedition. Weiter bergabwärts entdeckten sie an einem Baum zwei halbnackte Leichen und zwischen Lager und Baum drei weitere Körper. Sie wiesen zum Teil Verletzungen am Schädel und im Brustbereich auf. Die Überreste der anderen Expeditionsteilnehmer wurden erst zwei Monate später in einer Schlucht gefunden. Die Behörden stellten die Ermittlungen nach einigen Monaten ein. Todesursache laut Akten: eine massive Naturgewalt.
Lawinen-Theorie konnte sich nie durchsetzen
Schon damals etablierte sich neben vielen anderen Theorien – eine stellte gar die Mansen unter Mordverdacht, was sich schnell als vollkommen abwegig erwies – die Lawinenthese. Doch durchsetzen konnte sie sich nie. Stattdessen sponnen sich immer neue Gerüchte um den Fall. So berichteten die Retter von bis heute nicht erklärten merkwürdigen Lichterscheinungen, die sie am Berg wahrgenommen hatten, was Ufo-Gläubige auf den Plan rief. Zudem wurden an der Kleidung der Toten Spuren erhöhter Radioaktivität festgestellt – später stellte sich heraus, dass Thorium aus den Campinglampen der Grund dafür war.
ETH Zürich entwickelt Roboterhaut, die fühlen kann
„Einer der Hauptgründe, warum die Lawinentheorie immer noch keine breite Anerkennung findet, ist, dass die Behörden den genauen Ablauf nicht erklären konnten“, sagt Johan Gaume, Leiter des Labors für Schnee- und Lawinensimulation (Snow and Avalanche Simulation Laboratory, SLAB) der EPFL Lausanne. Er hat gemeinsam mit seinem Kollegen Alexander Puzrin, dem stellvertretenden Leiter des Instituts für Geotechnik an der ETH Zürich, die Geschehnisse von einst zu rekonstruieren versucht.
Was den Wissenschaftlern zunächst auffiel: Tatsächlich spricht vieles gegen die Lawinen-Theorie. Der Suchtrupp fand keine eindeutigen Spuren, die auf eine Lawine hingedeutet hätten, noch deren Ablagerung. Zudem war die Hangneigung oberhalb des Lagers mit etwa 30 Grad nicht steil genug für eine Lawine. Und dann sind da noch die merkwürdigen Verletzungen, die kaum durch eine Lawine verursacht worden sein können.
Sensoren schauen ins Innere von Lawinen
„Das Rätsel vom Djatlow-Pass: Meine Frau war zutiefst beeindruckt“
Gaume, der aus Frankreich stammt, und sein russischstämmiger Kollege Puzrin durchkämmten die alten Archive auf der Suche nach Hinweisen, diskutierten mit anderen Experten und entwickelten ein analytisches sowie ein numerisches Modell zur Rekonstruktion der Lawine, der die Expeditionsteilnehmer zum Opfer gefallen sein könnten. Vor allem für Puzrin ein sehr besonderes Erlebnis: „Das Rätsel vom Djatlow-Pass gehört heute zur russischen Folklore. Als ich meiner Frau erzählte, woran ich arbeite, war sie zutiefst beeindruckt“, erzählt er. „Das Projekt hat mich sehr gereizt, da ich zwei Jahre zuvor mit der Arbeit an Schneebrettlawinen begonnen hatte. Mein Hauptforschungsgebiet sind Erdrutsche. Ich untersuche, was genau passiert, wenn es zu Zeitverzögerungen zwischen dem Auslöser und dem tatsächlichen Abgang eines Erdrutsches kommt.“
Gaume und Puzrin vermuten, dass eine sogenannte Schneebrettlawine vor 62 Jahren die Tragödie verursacht hatte. Ihre Theorie: Die Expeditionsteilnehmer hatten für ihr Zelt in der Schneedecke des Hangs eine Grube augehoben. Die eigentliche Schneebrettlawine ging aber erst viele Stunden später ab. „Mithilfe von Daten zur Reibung zwischen Schneeschichten und der lokalen Topografie wollen wir beweisen, dass eine kleine Schneebrettlawine auf einem flacheren Hang abgehen könnte, ohne große Spuren zu hinterlassen“, so Gaume. Eine solche steinharte Schneebrettlawine hätte ähnliche Verletzungen wie die hervorrufen können, die an einigen der Opfern des Djatlow-Unglücks festgestellt worden waren.
Katabatische Winde sorgten für die steinharte Lawine
Doch warum gab es die merkwürdige Zeitdifferenz zwischen dem Anschnitt des Hangs und dem Abgang der Lawine? „Das ist das Hauptaugenmerk unseres Artikels“, erklärt Johan Gaume. „Die früheren Ermittlungen konnten nicht erklären, wie mitten in der Nacht eine Lawine ausgelöst werden kann, wenn es am Abend davor nicht geschneit hat. Wir brauchten eine neue Theorie, die genau das erklärt.“
Einer der wichtigsten Wetter-Faktoren in der Nacht, in der die Tragödie passierte, waren sogenannte katabatische Winde, also kalte Luft, die hangabwärts „fließt“. Diese Luftbewegungen könnten durchaus Schnee transportiert haben, der sich oberhalb des Zelts ansammelte, ohne dass die Gruppe etwas davon gemerkt hat – etwa weil die Sicht durch eine Anhöhe versperrt war. Dann machten sie nach Ansicht der beiden Wissenschaftler den fatalen Fehler: „Hätten sie den Hang nicht angeschnitten, wäre nichts passiert. Das war der Initialauslöser, hätte allein aber nicht ausgereicht. Wahrscheinlich verfrachteten die katabatischen Winde den Schnee, der sich langsam aufhäufte. Irgendwann bildete sich dann möglicherweise ein Riss und breitete sich aus. Und am Ende ging ein Schneebrett ab“, erläutert Alexander Puzrin.
Neue Modelle für Lawinenforschung
Welches Drama danach passierte, lässt sich nur vermuten. Einige der Expeditionsmitglieder hatten offenkundig das verschüttete Zelt von innen aufgeschnitten und waren barfuß oder fast unbekleidet in die Kälte gestürzt. Womöglich versuchten sie, ihre Begleiter zu retten und sich in Sicherheit zu bringen.
Die Theorie der beiden Forscher aus der Schweiz konnte Lücken in den bisherigen Lawinen-Thesen endlich schließen. Dennoch betonen die Forscher, dass das Unglück in weiten Teilen weiterhin ein Rätsel bleibt. „Tatsache ist, dass niemand wirklich weiß, was in dieser Nacht geschah. Aber wir haben starke quantitative Beweise, die die Lawinentheorie untermauern“, so Puzrin.
Mit Glasfaserkabeln Gletscher überwachen
Die beiden Modelle, die Puzrin und Gaume entwickelt haben, können jetzt eingesetzt werden, um mehr über Lawinen und die damit verbundenen Risiken zu erfahren – und vielleicht ähnliche Tragödien wie das Unglück vom Djatlow-Pass zu verhindern.
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