Schwimmende Mikrostaaten auf Hightech-Inseln
Das Seasteading Institute in San Francisco schafft Grundlagen für die Besiedlung der Ozeane. Mikrostaaten auf modularen Wohnplattformen sollen politische und unternehmerische Ideen erproben und althergebrachten Staatssystemen an Land Konkurrenz machen. Die Pläne und technischen Vorstudien sind erstaunlich konkret. Jüngst erwarb das Institut ein ausrangiertes Kreuzfahrtschiff, das Pionieren als Labor für das Leben, Arbeiten und Energieerzeugen auf hoher See dienen soll.
Endlich hat sich die aufgewühlte See beruhigt. Zwar hat der satte Windstromertrag der letzten Tage die Batterieblöcke und Wasserstofftanks aufgefüllt, doch Alan Green steht die Sorge ins Gesicht geschrieben. Wie sieht es in seinen Salat- und Tomatentreibhäusern aus, die nun wieder sanft auf den Wellen schaukeln? Und welche Schäden haben die Aquakulturen seines Lebenspartners Paul genommen, dessen Bioalgen, Doraden und Shrimps wichtige Exportgüter ihres Stadtstaates inmitten des Pazifischen Ozeans sind?
Stürme sind eine der großen Herausforderungen für die „Seasteader“, eine Bewegung die daran arbeitet, Mikrostaaten auf See zu gründen. Ihre Schaltzentrale ist das Seasteading Institute in San Francisco. Internet-Milliardär Peter Thiel rief es 2008 mit Patri Friedman, Enkel des Nobelpreisträgers Milton Friedman, ins Leben. Ihr Fernziel ist es, der Politik an Land Beine zu machen. Diese setze auf politische DNA des 18. Jahrhunderts, um die Herausforderungen der digitalen Welt zu lösen und schaffe Überregulierung, Schuldenkrisen und unzufriedene Kunden, sprich Bürger.
Neue Mikrostaaten sollen Reformideen für verkrustete Staatssysteme entwickeln
So wie experimentierfreudige Start-ups immer wieder Innovationsschübe auslösen, sollen die Start-up-Staaten in politischen und sozialen Experimenten Reformideen für verkrustete Staatssysteme entwickeln. Laut Vordenker Friedman kann das nur auf See funktionieren: „An Land sind alle Gebiete verteilt. Raum, um auf friedlichem Wege Nationen mit eigenen Verfassungen, Gesetzen und Visionen zu gründen, gibt es nur außerhalb staatlicher Hoheitsgewässer.“
Das Seasteading Institute, der Brain Trust der Seasteader, erforscht technische, juristische und ökonomische Grundlagen für den Schritt aufs Meer. Um dem Einfluss der Anrainer zu entgehen, müssen die maritimen Siedler weit hinaus. Bis 200 Seemeilen (370 km) vor der Küste können Staaten über Meeresbewohner und Bodenschätze verfügen.
Der Preis der Autonomie wird ein Leben in der rauen Hochsee mit Wassertiefen weit über 1000 m. Verankerung im Boden ist dort ebenso unmöglich, wie die Anbindung an Strom-, Wasser- oder Datennetze. Unter diesen Bedingungen gilt es, Hunderte und später mehrere Tausend Einwohner, die auf den modularen Plattformen leben und arbeiten sollen, zu versorgen. Ziel ist es, ihnen Komfort wie an Land zu bieten.
Schwimmende Mikrostaaten sollen 100-Jahressturm trotzen können
Eine zentrale Bedingung dafür ist es, die durch den Seegang bedingten Horizontal- und Vertikalbeschleunigungen der Inselreiche so zu minimieren, dass Landratten darauf nicht seekrank werden. Zudem müssen die gewaltigen Strukturen so stabil ausgelegt sein, dass sie dem statistischen 100-Jahressturm im jeweiligen Seegebiet trotzen können.
Um erste Entwürfe zu finden, hat das Institut Architektur- und Design-Wettbewerbe ausgeschrieben. Daneben kaufte es im Sommer ein ausrangiertes Kreuzfahrtschiff, auf dem schon bald erste Pioniere in See stechen sollen.
Auf lange Sicht könnte auch ein Konzept der Marine Innovation & Technology (MI&T) aus dem Kalifornischen Berkeley interessant werden. Dies sieht eine 120 m x 120 m große Wohn- und Arbeitsplattform vor, die mit Stahlseilen an vier Säulen fixiert wird. Jede einzelne davon ist 40 m hoch, hat 12 m Durchmesser und wird im Betrieb teilweise mit Ballastwasser gefüllt. Dann tauchen sie 20 m tief ins Wasser ein. Die Überwasserteile dienen als stabile Kerne der Gebäudeblöcke, in denen Treppenhäuser und Aufzüge untergebracht werden.
Ein Problem aber stellt sich: Werften, die Bauwerke dieser Dimension montieren könnten, gibt es nicht. Den MI&T-Planern schwebt vor, vier Seitenmodule mit Gebäuden vorzufertigen und diese mit Schleppern in eine Bucht zu ziehen. Dort sollen sie an einer massiven Rahmenstruktur zwischen den vier Säulen verschweißt werden. Anschließend sollen dann Bodenplatten per Stahlseilkonstruktionen fixiert werden. Erst nach der Montage sollen die Plattformen ins offene Meer aufbrechen, wo die Säulen in Führungsschienen abgesenkt werden. Im Endausbau soll so ein Wohnkoloss 115 Mio. $ kosten.
Experten unterschiedlichster Fachrichtungen bereiten Meeresbesiedelung durch Mikrostaaten vor
Der MI&T-Entwurf ist ein Ansatz unter vielen. Zur Vorbereitung der Meeresbesiedlung greift das Seasteading Institute auf Experten verschiedenster Disziplinen zurück. Designer, Architekten, Hydrologen, Schiffsbauer, Experten für Wellenbrecher, Aquakulturen und erneuerbare Energien, Materialwissenschaftler aus allen Teilen der Erde folgen einem Entwicklungsplan, der bis 2017 Engineering-Grundlagen der künstlichen Inseln erarbeiten und dabei deren Realisier- und Bezahlbarkeit im Blick behalten soll.
Technikdirektor George L. Petrie, ehemaliger Professor für Schiffsbau und langjähriger Berater der Offshore-Industrie, ist vor allem die energetische Autarkie solcher Plattformen ein Anliegen. In Studien lässt er untersuchen, welche Art von horizontalen, vertikalen oder schwebenden Windturbinen, welche Solar- und Wellenkraftwerke den Seestädten das beste Kosten-Nutzen-Verhältnis versprechen. Meereswärmenutzung (Ocean Thermal Energy Conversion – OTEC) spielt in seinen Visionen ebenfalls eine zentrale Rolle. Sie nutzt den Temperaturunterschied des Wassers an der Oberfläche und in Hunderten Metern Tiefe. Liegt er über 20 °C, kommt ein Wasserkreislauf in Gang, der je nach Rohrdurchmesser Turbinen unterschiedlicher Leistung antreiben kann. Alternativ könnten Wärmetauscher die Energie des Oberflächenwassers auf ein verdampfendes Medium übertragen, das dann mit Wasser aus der Tiefe wieder abgekühlt wird.
Auch den Biomasse-Anbau im Meer untersuchen die Forscher. „Algenzucht und Seasteading sind eine vielversprechende Kombination. Im großen Stil angebaut, könnten Algen nicht nur zur Nahrungsmittel- und Energieversorgung beitragen, sondern auch exportiert werden“, so Chef-Ingenieur Petrie. Da neben OTEC und Algenkraftstoffen ein Gutteil der benötigten Energie mit Wind- und Solarstrom gedeckt werden soll, stehen auch Speichertechnologien auf der Agenda: per Elektrolyse erzeugter Wasserstoff, Ammoniak, Druckluft, die sich bei Stromüberschuss in Ballons unter der Plattform pressen ließe oder Batterien heißen die Alternativen, deren Kosten-Nutzen-Verhältnis die „Seasteader“ noch klären wollen.
Allerdings müssen die Ingenieure zunächst ermitteln, welcher Energiebedarf überhaupt zu decken sein wird. Neben Beleuchtung, Heizung, Meerwasserentsalzung, Gebäudetechnik und Kommunikation werden die Antriebe der schwimmenden Plattformen ständig Energie brauchen. Denn sie müssen bei jeder Wetterlage und Strömung die Position halten. Das Team um Petrie untersucht deshalb, ob höhere Positionstoleranzen den Verbrauch senken können. Statt sich mit viel Energie gegen Stürme zu stemmen, könne man sich auch treiben lassen und bei ruhiger See langsam wieder an den gewohnten Standort zurückschippern. Auch intelligente Steuerung von Energieverbrauch und -erzeugung über Mikro-Smart-Grids soll helfen, die Energiefrage zu lösen.
Damit sich die Plattformen auch ökonomisch rechnen, wollen die Initiatoren Gewerbe ansiedeln. Die Ideen reichen von Luxushotels über Technologiezentren bis zu Kliniken, die Medizintouristen weit günstiger als die überregulierte Konkurrenz an Land versorgen – und ihnen stets Zugang zu neuesten Behandlungsmethoden verschaffen könnten. Der Vorteil geringer staatlicher Regulierung soll auch Biotechnologen, Finanzjongleure und IT-Gründer anziehen. Den Initiatoren schwebt eine maritime Start-up-Kultur vor, in der sich die Szene noch stärker konzentrieren wird, als im Silicon Valley.
Eine weitere ökonomische Perspektive ist nachhaltige Fisch-, Muschel- und Algenzucht. Ihr Vordenker ist Ricardo Radulovich, der als Professor der Uni Costa Rica teils in Förderprojekten von Vereinten Nationen und Weltbank seit vielen Jahren Grundlagen der Pflanzenzucht im Meer erforscht. Neben kostengünstigen Anbausystemen für Seegras, Algen und Tang hat er Verfahren entwickelt, um Salat und Tomaten in schwimmenden, nach unten abgedichteten Beeten zu ziehen. Bei hinreichenden Niederschlägen müssen sie nicht bewässert werden. In trockenen Klimazonen setzt der Experte auf schwimmende Treibhäuser, an deren Planen verdunstetes Wasser destilliert und die Pflanzen bewässert. Noch sind diese sehr kostengünstigen Systeme allerdings nur bis 3 m Wellenhöhe tauglich.
Ob der Schritt in die Hochsee gelingt, steht bei Radulovichs Anbausystemen wie bei vielen anderen technischen Ansätzen der Seasteader in den Sternen. Der Professor selbst sieht maritimen Ackerbau nicht nur als Beitrag zur Nahrungs- und Energieautarkie, sondern auch zur Sicherheit der Ozeanstädte. Wo Käfige und an Schnüren wachsende Algen, Tang und Meeresfrüchte die Wasseroberfläche besetzen, ist für Boote unliebsamer Besucher kein Durchkommen. Zufahrten durch weitläufige Aquakulturen sind leichter zu überwachen und zu verteidigen.
Nicht zuletzt erwartet Radulovich, dass Algenteppiche dämpfend auf die Hochseewellen wirken werden.
Darauf allein verlassen sich die Seasteader aber nicht. Sie kooperieren unter anderem mit der niederländischen FDN Group, die auf schwimmende Bauten spezialisiert ist. Sie hat schwimmende Beton-Wellenbrecher entwickelt, die Häfen in vielen Teilen der Welt vor Wellen schützen. Gelänge es, Ringe solcher treibenden Wellenbrecher um die Plattformen zu legen, hätten die Ozeansiedler eine Sorge weniger. Erste Machbarkeitsstudien laufen, die klären sollen, ob und zu welchen Kosten solche Betonringe tosenden Hochsee-Orkanen trotzen können.
Stürme bleiben nicht nur aus technischer Sicht die zentrale Herausforderung. Fraglich ist auch, wie robust Mikrostaaten mit wenigen Tausend Einwohnern gegen politische Stürme und Umwälzungen sein werden. Die mangelnde Beweglichkeit großer Nationen hat auch einen entscheidenden Vorteil – sie geraten selten in unruhiges Fahrwasser.
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