Serie Zukunftswelten 17.02.2012, 12:00 Uhr

Vision künstlicher Muskel

Forschergruppen und Start-ups in aller Welt treiben die Vision künstlicher Muskeln auf Basis elektroaktiver Polymere voran. Ganz wie die natürlichen Vorbilder kontrahieren sie und dehnen sie sich unter elektrischer Spannung aus. Einsätze als Aktoren, Sensoren, als Pumpen oder dezentrale Energieerzeuger sind geplant. Erste Mikroskope und Smartphones verfügen schon über die Muskulatur aus dem Labor.

„James lass das!“ In Bodybuilder-Pose präsentiert Haushaltsroboter James seinen beachtlichen Bizeps. „Das macht er immer, wenn Besuch kommt“, echauffiert sich seine betagte Besitzerin Mia Schmidt schmunzelnd und federt zur Begrüßung förmlich aus ihrem Ohrensessel. Wie ihr eitler Diener nutzt auch sie die Kraft elektroaktiver Polymere (EAP). Neuerdings trägt sie sie als Exo-Korsett direkt am Leib. Schmidt ist froh, dass sie ihr Exo-Skelett endlich los ist. Soll das sperrige Ding doch auf dem Dachboden verstauben.

Ganz so weit ist die Entwicklung künstlicher Muskeln natürlich noch nicht. Doch Forschergruppen und Start-ups in aller Welt arbeiten daran, dass künftig nicht nur Roboter und Rentner Muskeln aus dem Polymer-Labor bekommen, sondern diese auch für Bewegung in Kameras, Maschinen, Autos und Pumpen sorgen – oder umgekehrt Bewegungen und Schwingungen detektieren.

Künstliche Muskeln lassen heute schon Apples iPod vibrieren

Erste Anwendungen sind an der Schwelle zum Markt. So implantiert das 2010 von Bayer Material Science gekaufte Kalifornische Start-up Artificial Muscle, Inc. seine Elektromuskulatur in Apples iPod touch 4G. Genauer zwischen Akku und Gehäuse. Wer mit dem Gerät spielt, bekommt das zu spüren: Rotoren von Hubschraubern vibrieren täuschend echt, Würfel klackern nicht nur hörbar, sondern fühlbar, und wenn ein Herz pocht, pocht der ganze iPod.

Auch die junge Optotune AG aus dem schweizerischen Dietikon will mit Polymermuskeln mobile Geräte erobern. Die Gründer nutzen EAPs als Aktoren für Autofokus-Systeme von Handykameras. Wie im menschlichen Auge verstellt „Muskelkraft“ Linsen auf engstem Raum stufenlos. Neben Kameralinsen will das Spin-off der ETH Zürich Laser, Mikroskope, Taschenlampen und andere Lichtquellen revolutionieren. Dafür hat es die Technik zu beachtlicher Reife gebracht. Über 10 Mio. millisekunden-schnelle Autofokus-Zyklen absolvieren ihre elektrisch verstellbaren Linsensysteme. Dafür benötigen sie unter 2 W Eingangsleistung bei nicht einmal 5 V Spannung.

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Doch wie funktionieren die Elektro-Muskeln, denen Studien viele Milliarden Euro Marktpotenzial attestieren? Im Grunde handelt es sich um einen elastischen weichen Polymer-Kern zwischen zwei flexiblen Elektroden. Diese ziehen einander unter Spannung an und quetschen den weichen Kern. Weil Polymere praktisch nicht komprimierbar sind, dehnt sich der Elastomer seitlich aus. Je nach Material können das wenige Prozent oder das Doppelte und Dreifache sein. Sinkt die elektrische Spannung, kehrt das Sandwich in seine Urform zurück. Der „Muskel“ kontrahiert. Vorteil: Durch Regelung der angelegten Spannung ist die Bewegung des Muskels exakt steuerbar.

Schon Röntgen beobachtete diesen Effekt 1880 an einem Kautschukband. „Heute sind wir in der Lage, geeignete Polymere zu designen und entsprechende Fertigungstechniken zu entwickeln“, sagt Reimund Gerhard, der sich als Professor am Institut für Physik und Astronomie der Uni Potsdam mit verschiedensten Unterarten elektroaktiver Polymere befasst. Dazu zählen ferro-, piezo- und pyroelektrische Polymere sowie dielektrische Elastomere. Gemeinsamkeit: Sie sind weich und können elektrische Energie in mechanische übersetzen oder umgekehrt. Sie funktionieren also wie echte Muskeln aktorisch und sensorisch, was die Regelung der „Muskel-Aktoren“ erleichtert. Sie liefern die Signale ihrer Verformung gleich mit.

Artificial Muscle und Optotune setzen auf dielektrische Elastomere, die beschriebenen Elektroden-Polymer-Sandwiches also. „Anders als bei anderen EAP sitzt die elektrische Ladung hier allein in den Elektroden“, so Gerhard. Im Betrieb müsse ständig Spannung anliegen. Für den sensorischen Einsatz, etwa zur Bauwerküberwachung, ein Nachteil. Auch den Aktoren sind dadurch Grenzen gesetzt. Denn starke Muskeln setzen kräftige Elastomer-Kerne voraus. Mit der Dicke des Kerns steigt jedoch automatisch die Entfernung der Elektroden. Es muss ein umso stärkeres elektrisches Feld erzeugt werden. Oft brauche es Spannungen von einigen hundert Volt bis zu einigen Kilovolt. Von einem Exo-Korsett wäre Frau Schmitz – Stand heute – also abzuraten.

Allerdings haben die Forscher Tricks, um das Spannungsniveau zu senken. Eine Option ist es, die „Muskeln“ aus Hunderten oder sogar Tausenden hauchdünner Sandwiches zu stapeln oder mehrere davon zu rollen. Daran arbeitet Gabor Kovacs, einer der weltweit führenden EAP-Forscher. In der Schweizer Technologieschmiede EMPA und seiner neu gegründeten Firma „Compliant Transducer Systems“ arbeitet Kovacs an der Fertigungstechnik, um etwa 20 µm dünne Lagen aus Elektroden und Elastomeren fehlerfrei und homogen aufeinander zu bringen. „Das geht nur im Reinraum mit voll
automatisierter Technik“, stellt er klar. Im nächsten Schritt sollen die Lagen nur noch 1 µm messen, wofür Silberelektroden in einem Vakuum-Verfahren auf hauchdünne UV-gehärtete Silikonfilme aufgesputtert werden sollen. Während er bei solchen Hightech-Stacks vor allen an medizintechnische Anwendungen denkt, möchte der Experte für grobmotorische Anwendungen manuell gefertigte „Muskelstapel“ realisieren.

Einsatz künstlicher Muskeln in der Industrie ist in Reichweite

Während Implantate – seien es künstliche Schließmuskeln oder perestaltische Pumpen im Bereich des Verdauungstraktes – nach Kovacs Ansicht noch Zukunftsmusik sind, sieht er Industrieeinsätze in Reichweite. Am EMPA hat er den Prototypen eines Pneumatik-Ventils entwickelt, das sich seit geraumer Zeit im industriellen Umfeld bewährt. „Es hat eine ganze Reihe von Vorteilen“, erklärt er. Neben komplett lautlosem Betrieb, direkter Ansteuerbarkeit, klaren Vorteilen bei Kosten und Bauraum sei es robust und energieeffizient. „Wir erreichen mehrere 10 Mio. Zyklen. Es ist ja im Prinzip nicht viel mehr, als ein Stück Silikon, das sich bewegt“, sagt der Forscher. Zudem brauche es im Normalfall keinen Strom. Nur zum Umschalten müssen die Elektroden jeweils geladen oder gezielt entladen werden.

Der Schweizer Forscher sieht das Potenzial der künstlichen Muskeln in der Ventil-Aktorik oder in simplen Stellmotoren, wie sie in Autos dutzendfach verbaut werden, längst nicht erschöpft. „Es ist generell möglich, elektroaktive Polymere auch generatorisch zu nutzen, um Energie aus zyklisch auftretenden Bewegungen zu gewinnen“, erklärt er. So könnten dereinst extrem günstige, dezentrale Wellenkraftwerke realisiert werden. Der Fantasie, wo die simplen, billigen Polymer-Generatoren noch überall Strom erzeugen könnten, sind keine Grenzen gesetzt.

Für Kovacs steht und fällt die weitere Entwicklung der „Muskeln“ mit der Produktionstechnik und der Materialforschung. „Gerade die Elektroden müssen extreme Anforderungen erfüllen“, gibt er zu bedenken. Sie müssen höchst elastisch und auch im verformten Zustand voll leitfähig bleiben. Um das zu erreichen, experimentieren die Forscher unter anderem mit Kohlenstoff-Nanopartikeln, -fasern und -röhrchen oder mit metallisch dotierten Kunststoffen. Wo
gerade bei Letzteren das Problem unerwünschter Agglomerationen auftritt – die Metallpartikel wandern und klumpen.

Hier setzt Gerhard mit seinen Forschungen in Potsdam an. „Wir arbeiten daran, die sogenannte Dielektrizitätskonstante im Material zu vergrößern“, berichtet er. Denn das erlaube bei gleicher elektrischer Spannung höhere Aufladung der positiv und negativ geladenen Elektroden. Dafür bauen die Forscher in Kooperation mit dem benachbarten Fraunhofer Institut für angewandte Polymerforschung sogenannte Dipole in die Elastomerketten ein. Das verhindert unerwünschte Agglomeration, denn die Partikel stecken quasi in der chemischen Zwangsjacke. „Wir erreichen damit eine Steigerung der Dielektrizitätskonstante um einen Faktor zwei bis drei“, freut sich der Physiker. Die Anreicherung mit den Dipolen sei im Zuge der ohnehin nötigen Vernetzung der Elastomer-Ketten machbar und funktioniere praktisch ohne Rückstände. „Gerade Letzteres ist wichtig, da bei Verunreinigungen die elektrische Leitfähigkeit im Elastomer steigen würde – und genau das ist ja im Sinne hoher Feldstärken unerwünscht“, erklärt er.

Neben dem Vorteil der zwei bis dreimal höheren Elektrizitätskonstante hatte das Einbringen der Dipole einen weiteren, ursprünglich gar nicht erwarteten Effekt. „Der Elastomer wird dadurch deutlich weicher, was die Wirkung bei gleicher elektrischer Spannung abermals verdoppelt hat“, berichtet Gerhard. Insgesamt erreichen die Potsdamer Forscher so sechsmal größere Dehnungen der „Muskeln“ bei gleicher Spannung.

Künstlicher Muskel gewinnt im Armdrücken

Weltweit treiben Forscher die Leistungsfähigkeit der künstlichen Muskeln so systematisch voran. Auf dem Trainingsplan: dünnere Schichten, stärkere elektrische Felder und elastischere Polymere.

Ob und wann Roboter wie James mit ihrem Bizeps prahlen, ist ungewiss. Die fiktive Mia Schmidt müsste heute in den Windeln liegen, um es als Greisin womöglich in ein Exo-Korsett zu schaffen. Dafür bescherten die Muskelforscher neulich einer realen 17-Jährigen ein kleines Erfolgserlebnis. Im Armdrücken rang sie die EAP-bestückten Roboterarme sämtlicher Forscherteams nieder. Wie so oft war der Bauplan der Natur überlegen.

 

Ein Beitrag von:

  • Peter Trechow

    Peter Trechow ist Journalist für Umwelt- und Technikthemen. Er schreibt für überregionale Medien unter anderem über neue Entwicklungen in Forschung und Lehre und Unternehmen in der Technikbranche.

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