Industrielle Revolution 16.11.2024, 09:36 Uhr

Wie Deutschland zur Industrienation wurde und Ingenieure dabei halfen

Die Industrialisierung in Deutschland begann verspätet im Vergleich mit England, wurde aber dennoch eine Erfolgsgeschichte. Angetrieben von Ingenieuren, die mit zahlreichen Innovationen das Tempo hochhielten.

Alte Eisenbahn

Eisenbahnen waren der wichtigsten Motoren der Industrialisierung und Ingenieure waren bei deren Entwicklung mittendrin.

Foto: PantherMedia / stokkete

Die Industrialisierung veränderte die Welt wie kaum ein anderer Prozess. Im 18. und 19. Jahrhundert setzte eine Dynamik ein, die die Lebensweise der Menschen, die Struktur der Wirtschaft und die Organisation der Arbeit grundlegend wandelte. Deutschland, bis dahin ein Agrarstaat mit fragmentierten Märkten, entwickelte sich innerhalb weniger Jahrzehnte zu einer führenden Industrienation.

Die Industrialisierung umfasste mehrere Phasen. Zunächst standen mechanische Innovationen wie die Dampfmaschine im Mittelpunkt, später folgten elektrische und chemische Fortschritte. In jeder Phase spielten Ingenieure eine entscheidende Rolle. Sie entwickelten die Maschinen, optimierten Produktionsprozesse und schufen die Infrastruktur, die den industriellen Wandel überhaupt möglich machte.

Die Voraussetzungen der Industrialisierung in Deutschland

Vor der Industrialisierung war Deutschland überwiegend ländlich geprägt. Die meisten Menschen lebten von der Landwirtschaft. Kleinere Handwerksbetriebe und Manufakturen produzierten Güter für den lokalen Bedarf. Gleichzeitig entwickelte sich in einigen Regionen eine frühe Form der Industrie, die sogenannte Protoindustrialisierung. Im Bergischen Land und im Erzgebirge entstanden etwa textile und metallverarbeitende Betriebe, die den Übergang zur Industrialisierung vorbereiteten.

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Deutschland war bis zur Gründung des Zollvereins 1834 durch interne Grenzen und Zölle zersplittert. Unterschiedliche Maße und Gewichte behinderten den Handel. Erst durch die wirtschaftliche Integration und die Einführung einheitlicher Standards konnte sich ein größerer Markt entwickeln. Dies war eine wichtige Grundlage für die Industrialisierung. Diese Zersplitterung war auch einer der Hauptgründe, warum Deutschland gegenüber Großbritannien im Rückstand war, das bereits wesentlich früher seine industrielle Revolution hatte.

Technologische Innovationen als Motor der Industrialisierung

Neue Technologien brachten die Industrialisierung erst richtig voran. Die wichtigsten stellen wir Ihnen hier kurz vor:

Dampfmaschine und Mechanisierung

Die Einführung der Dampfmaschine war ein Meilenstein. Sie ermöglichte die Mechanisierung der Produktion und machte Fabriken unabhängig von Wasserläufen. In Deutschland wurde die erste Dampfmaschine 1785 in der Bergbauindustrie eingesetzt. In den folgenden Jahrzehnten breitete sich die Technologie auf Textil- und Metallverarbeitungsbetriebe aus. Der Einsatz von Dampfmaschinen führte zu einer erheblichen Steigerung der Produktivität.

Eisenbahnbau: Revolution des Transports

Die Eisenbahn war eine der bedeutendsten Innovationen der Industrialisierung. Mit der Eröffnung der Strecke Nürnberg–Fürth im Jahr 1835 begann der flächendeckende Ausbau des Schienennetzes. Innerhalb von wenigen Jahrzehnten entstand ein dichtes Verkehrsnetz, das nicht nur den Transport von Gütern und Rohstoffen revolutionierte, sondern auch die Mobilität der Menschen förderte.

Ingenieure waren maßgeblich an der Planung und dem Bau der Eisenbahnen beteiligt. Sie entwickelten Brücken, Tunnel und Viadukte, die bis heute als technische Meisterwerke gelten.

Stahlproduktion: Das Rückgrat der Schwerindustrie

Die industrielle Revolution wäre ohne Fortschritte in der Stahlproduktion nicht möglich gewesen. Mit dem Bessemerverfahren (ab 1855) und später dem Siemens-Martin-Verfahren konnten große Mengen hochwertigen Stahls kostengünstig hergestellt werden.

Deutschland wurde zu einem der größten Stahlproduzenten weltweit. Ingenieure wie Alfred Krupp oder August Borsig spielten eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung von Maschinen und Werkzeugen, die den Einsatz von Stahl in der Industrie ermöglichten.

Elektrifizierung: Der Beginn der zweiten industriellen Revolution

Die zweite Phase der Industrialisierung wurde durch die Elektrifizierung eingeleitet. Ingenieur*innen wie Werner von Siemens entwickelten Generatoren, Elektromotoren und Beleuchtungssysteme, die den Alltag und die Industrie revolutionierten.

Elektrische Energie ersetzte Dampf als primäre Antriebskraft und ermöglichte die Entstehung neuer Industrien, wie der Kommunikations- und Haushaltsgeräteindustrie. Mit Fortschritten in der Chemie wie der Synthese von Anilinfarben und dem Haber-Bosch-Verfahren setzte Deutschland Maßstäbe.

Zeitstrahl: Wichtige Meilensteine der Industrialisierung in Deutschland
Jahr Ereignis
1784 Erste mechanische Baumwollspinnerei in Ratingen
1785 Erste Dampfmaschine in Hettstedt
1834 Gründung des Deutschen Zollvereins
1835 Erste Eisenbahnstrecke Nürnberg–Fürth
1848 Revolution und soziale Konflikte
1850 Beginn des Eisenbahnbaus im großen Stil
1860 Einführung des Bessemerverfahrens
1871 Gründung des Deutschen Kaiserreichs
1890 Elektrotechnik etabliert sich als Industrie

Regionale Schwerpunkte der Industrialisierung

Die industrielle Revolution verlief in Deutschland nicht gleichmäßig, verschiedene Regionen profitierten mehr, andere weniger bis gar nicht. Hier vier Zentren, die bei der Industrialisierung ganz vorne mit dabei waren:

Sachsen als das „deutsche Manchester“: Sachsen entwickelte sich zu einem der bedeutendsten Industriezentren. Chemnitz, Zwickau und Leipzig wurden zu Hochburgen des Maschinenbaus und der Textilindustrie. Chemnitz erhielt aufgrund seiner industriellen Vielfalt den Beinamen „sächsisches Manchester“.

Das Ruhrgebiet als Zentrum von Kohle und Stahl: Reiche Kohlevorkommen und ein wachsender Bedarf an Eisen und Stahl machten das Ruhrgebiet zum Herzstück der Montanindustrie. Unternehmen wie Krupp und die Gutehoffnungshütte prägten die Region.

Berlin als Hochburg des Maschinenbaus: Berlin wurde zur Hochburg der Elektrotechnik und des Maschinenbaus. Firmen wie Siemens prägten die Stadt nachhaltig.

Das Rheinland als Verkehrsknotenpunkt und Industriestandort: Dank seiner Lage an schiffbaren Flüssen und der Nähe zu Frankreich entwickelte sich das Rheinland zu einem wichtigen Standort für Chemie, Maschinenbau und Textilindustrie.

Technische Bildung und die ersten Ingenieure

Die industrielle Revolution brachte nicht nur wirtschaftliche Umwälzungen, sondern war auch ein Wendepunkt in der technischen Bildung. Neue Anforderungen an Fachkräfte und Ingenieure führten zur Gründung zahlreicher Schulen und Hochschulen. Diese Institutionen legten den Grundstein für Deutschlands späteren Erfolg als Industrienation.

Die Anfänge der technischen Bildung

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden erste Fach- und Gewerbeschulen, die ein mittleres Bildungsniveau vermittelten. Diese Schulen entsprachen etwa den französischen Écoles des Arts et Métiers. Für eine höhere technische Ausbildung wurden polytechnische Schulen gegründet. Diese lehnten sich in Namen und Konzept an die École Polytechnique in Frankreich an, erreichten jedoch zunächst nicht deren Niveau.

Die erste polytechnische Schule entstand 1806 in Prag. Wegweisend wurde jedoch die Gründung des Polytechnischen Instituts in Wien im Jahr 1815. Von dort aus breitete sich die Idee solcher Bildungseinrichtungen rasch aus. In den 1830er- und 1840er-Jahren folgten zahlreiche Gründungen in deutschen Klein- und Mittelstaaten, darunter Karlsruhe, München und Braunschweig.

Technische Hochschulen und ihre Entwicklung

Die 1855 gegründete Schule in Zürich, die heutige ETH Zürich, führte ein neues Modell ein. Sie war in Fakultäten gegliedert, beschäftigte renommierte Wissenschaftler*innen und setzte neue Maßstäbe in der Ingenieursausbildung. Dieses Konzept beeinflusste auch die weiteren Entwicklungen in Deutschland.

Bis etwa 1880 wandelten sich die polytechnischen Schulen schrittweise in Technische Hochschulen. Mit der Verleihung des Promotionsrechts um 1900 erreichten sie die gleiche formale Anerkennung wie Universitäten. Franz Reuleaux und Franz Grashof trugen wesentlich zur Theoretisierung der Ingenieurwissenschaften bei. Ihr Engagement führte zu einer stärkeren Einbindung von Mathematik und Naturwissenschaften in den Lehrplan.

Ein Wendepunkt war die Entscheidung Kaiser Wilhelms II. im Jahr 1899. Er gewährte den Technischen Hochschulen das Recht, die Titel „Diplomingenieur“ (Dipl.-Ing.) und „Doktor-Ingenieur“ (Dr.-Ing.) zu verleihen. Dies wurde als „Ritterschlag der Wissenschaft“ gefeiert.

Gründungsdaten polytechnischer Schulen im deutschsprachigen Raum
Jahr Ort der Hochschule
1806 Prag
1815 Wien
1825 Karlsruhe
1827 München
1828 Dresden
1829 Stuttgart
1831 Hannover
1835 Braunschweig
1837 Darmstadt
1838 Gießen
1855 Chemnitz
1855 Zürich
1870 Aachen
1879 Berlin (durch Zusammenschluss des Gewerbeinstituts (1821) und der Bauakademie (1799))
1904 Danzig
1910 Breslau

Fach- und Gewerbeschulen bildeten den Motor für die Praxis

Fachschulen spielten eine wichtige Rolle bei der Vermittlung praktischer Kenntnisse. Vor allem im Bergbau, einem technologisch fortschrittlichen Bereich, waren theoretische Grundlagen essenziell. Hier wurden Mathematik, Chemie, Metallurgie und Maschinenkunde unterrichtet. Die ersten Bergschulen entstanden bereits im 18. Jahrhundert.

Im Bauwesen etablierten sich Baugewerkschulen, die später zu Berufsschulen oder allgemeinbildenden Schulen wurden. Gewerbeschulen waren vielfältig organisiert – als staatliche oder private Einrichtungen, Vollzeit- oder Abendschulen. In Preußen gab es beispielsweise die Provinzial-Gewerbeschulen, die Schüler*innen auf die Meisterebene oder auf ein Studium an polytechnischen Schulen vorbereiteten.

Mit der zunehmenden Akademisierung der Technischen Hochschulen und dem Wandel der Gewerbeschulen zu allgemeinbildenden Realschulen entstand ab 1880 eine Lücke. Diese wurde durch die neuen Mittelschulen geschlossen, aus denen später die Fachhochschulen hervorgingen.

Die Früchte der technischen Ausbildung

Ab 1870 brachte die Hochindustrialisierung einen Aufschwung. Deutschland entwickelte eigenständig Technologien wie den Elektromotor (Siemens), die Verbrennungsmotoren (Otto, Diesel) und das Haber-Bosch-Verfahren. Unternehmen der Chemie- und Schwerindustrie wie BASF und Krupp wurden weltweit führend.

Die Bildung spielte dabei eine entscheidende Rolle. Die technischen Hochschulen boten nicht nur theoretisches Wissen, sondern förderten auch Forschung und Innovation. Forschungslabore nach amerikanischem Vorbild entstanden, was die Praxisorientierung stärkte.

Obwohl die Ingenieurswelt lange Zeit männlich dominiert war und teilweise in manchen Fachgebieten noch heute ist, gab es auch Pionierinnen. Ab Ende des 19. Jahrhunderts erkämpften sich Frauen Zugang zu technischen Bildungseinrichtungen und Berufen. Ihre Beiträge, etwa in der Elektrotechnik oder Chemie, wurden jedoch oft übersehen.

Technisch-wissenschaftliche Vereine entstehen

Mit der zunehmenden Anzahl an gut ausgebildeten Fachkräften wie Ingenieuren, bildeten sich unterschiedlichste Organisationen. Ab 1824 wurde verschiedene regionale Architekten- und Ingenieurvereine gegründet. Aus einem der lokalen Vereine ist später der TÜV entstanden. Zu den wichtigsten Vereinen gehörte der VDI, der alle Ingenieure unter einem Dach vereinen wollte. Es gab aber auch „spezialisierte“ Vereine wie der Verband Deutscher Elektrotechniker (VDE) oder der Verein deutscher Eisenhüttenleute (VdEh)

Der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) wurde 1856 gegründet, um den Berufsstand zu stärken und die Technisierung voranzutreiben. Er förderte Innovationen, schuf Netzwerke und setzte Standards, die bis heute gelten. Der VDI war (und ist es immer noch) auch eine Plattform für den Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis.

Edelmetallgießerei in Paris 1860

Auch in Frankreich lief die Industrialisierung auf Hochtouren: Blick in eine Pariser Edelmetallgießerei im Jahr 1860.

Foto: PantherMedia /
marzolino

Wirtschaftliche Auswirkungen der Industrialisierung

Mit der Industrialisierung wuchsen Städte wie Berlin, Essen und Leipzig rasant. Neue Stadtteile entstanden, oft geprägt von Fabriken und Arbeiterwohnungen. Dieser Prozess brachte auch infrastrukturelle Herausforderungen mit sich, darunter die Versorgung mit Trinkwasser und die Entsorgung von Abwasser.

Die Industrialisierung schuf zahlreiche neue Branchen, darunter Maschinenbau, Chemie und Elektrotechnik. Unternehmen wie BASF und Bayer wurden zu globalen Marktführern. Der Maschinenbau etablierte sich als Rückgrat der deutschen Industrie und machte das Land international konkurrenzfähig.

Deutschland wurde zu einem der führenden Exporteure von Industrieprodukten. Der Eisenbahn- und Maschinenbau trugen wesentlich dazu bei, deutsche Technologien weltweit bekannt zu machen. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war Deutschland eine der führenden Exportnationen.

Gründerboom und Gründerkrise

Die wirtschaftliche Entwicklung war von Phasen des Aufschwungs und Abschwungs geprägt:

  • Gründerboom (1860–1873): Investitionen in Eisenbahn, Schwerindustrie und neue Technologien führten zu einem beispiellosen Wirtschaftswachstum.
  • Gründerkrise (ab 1873): Überkapazitäten und spekulative Investitionen lösten eine schwere Wirtschaftskrise aus, die das Ende der industriellen Revolution einleitete.

Die Industrialisierung wäre ohne die Finanzierung durch Banken nicht möglich gewesen. Die Gründung großer Universalbanken, wie der Deutschen Bank (1870), erleichterte die Kapitalbeschaffung für Großprojekte.

Aufstand der Arbeiterschaft

Aufstand der Arbeiterschaft in der Hazard Kohlemine in Belgien. In Deutschland gab es ähnliche Aufstände.

Foto: PantherMedia /
marzolino

Soziale Veränderungen: Der Aufstieg der Arbeiterschaft

Die Arbeiterschaft wurde zur größten sozialen Gruppe. Das brachte einige Herausforderungen mit sich.

Die soziale Frage: Die Industrialisierung brachte nicht nur Fortschritt, sondern auch soziale Probleme mit sich. Viele Arbeiterinnen und Arbeiter litten unter schlechten Arbeitsbedingungen, langen Arbeitszeiten und niedrigen Löhnen. Die Frage nach sozialen Rechten und fairer Bezahlung rückte zunehmend in den Fokus.

Entstehung der Arbeiterbewegung: Mit der Industrialisierung wuchs auch die politische Organisation der Arbeiterschaft. Erste Gewerkschaften und politische Bewegungen, wie die Sozialdemokratie, entstanden. Karl Marx und Friedrich Engels prägten mit ihrer Kritik am Kapitalismus das Denken vieler Arbeiterinnen und Arbeiter.

Rolle von Frauen und Kindern: Frauen und Kinder arbeiteten besonders häufig in der Textilindustrie. Die Kinderarbeit nahm im Verlauf der industriellen Revolution ab, blieb jedoch vor allem in ländlichen Bereichen weit verbreitet.

Deutschlands Weg zur Industrienation

Die industrielle Revolution war der entscheidende Schritt Deutschlands zur Industrienation. Technologische Innovationen, der Ausbau von Eisenbahn und Schwerindustrie sowie der Aufstieg des Bürgertums waren Meilensteine dieser Epoche.

Doch der Fortschritt war begleitet von sozialen Spannungen, die die Gesellschaft nachhaltig veränderten. Deutschlands Industrialisierung legte den Grundstein für seine führende Rolle in Europa, hinterließ aber auch Herausforderungen, die in der modernen Gesellschaft fortwirken.

Ein Beitrag von:

  • Dominik Hochwarth

    Redakteur beim VDI Verlag. Nach dem Studium absolvierte er eine Ausbildung zum Online-Redakteur, es folgten ein Volontariat und jeweils 10 Jahre als Webtexter für eine Internetagentur und einen Onlineshop. Seit September 2022 schreibt er für ingenieur.de.

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