Wurst aus In-vitro-Fleisch
„Früher, als Opa noch ein Kind war, da gab es große Ställe mit Hühnern, Kühen und Schweinen. Die wurden gefüttert, geschlachtet und gegessen.“ Der kleine Sven hört nur mit einem Ohr zu. Er steht erwartungsvoll auf dem Stuhl und wartet auf seinen großen Einsatz. Der Vierjährige darf zum ersten Mal die Nährlösung in den nagelneuen Fleischzüchter träufeln. „Schön über den Schwamm in der Mitte. Gut machst Du das“, lobt seine Mutter.
Natürlich ist es kein Schwamm, den Sven mit der rot gefärbten Lösung aus pflanzlichen Proteinen, Wachstumshormonen und Stammzellen vom Kalb benetzt. Es handelt sich um Mikroschaum, den die Zellen in den nächsten vier Tagen bei konstant 37 °C bewuchern werden. Sein Geflecht versorgt das junge Muskelgewebe mit dem Nährstoff- und Hormonmix und trainiert es. Dafür jagt das Fritteusen-große Gerät alle 10 s leichte Stromstöße in den leitenden Schaum, unter denen die Fasern zucken.
Wurst könnte in Zukunft aus dem „Urban Meat Lab“ kommen
Am Sonntag kommt das so gestählte Muskelgeflecht als Braten auf den Tisch. Zwar hat die junge Mutter ein schlechtes Gewissen gegenüber dem netten Verkäufer im „Urban Meat Lab“ in der Innenstadt, seit sie ihr Fleisch daheim züchtet. Doch so sieht der Kleine, wo das Fleisch herkommt. Und billiger ist es auch.
So in etwa könnte die Zukunft aussehen, an der die schwedischen Biotechnologen Julie Gold und Patric Wallin wie zwei Dutzend weitere Forscher in aller Welt arbeiten. „Noch verläuft unsere Forschung im kleinen Kreis. Um voranzukommen, müssen wir die Aktivitäten stark ausweiten“, stellte Gold Ende August bei einem Workshop in Göteborg klar, wo sich die Crème de la Crème der Fleisch-Createure traf und einen Aktionsplan zur Intensivierung der Forschung entwickelte.
Nicht nur die Forscher sind vom Nutzen des Retorten-Fleischs überzeugt. Auch die Europäische Forschungsstiftung ESF, die den Workshop finanzierte, ist laut ihrem Vertreter Giovanni Pacini sehr angetan: „In-vitro-Fleisch ist ein Forschungsfeld mit enormem Potenzial für das Wohl der Menschheit und sollte unbedingt vertieft werden.“ Genau dafür investiert die Niederländische Regierung seit 2005 rund 2,5 Mio. € an Fördergeldern. Die Tierschutzorganisation PETA ist vom Fleisch ohne Schlachthöfe sogar derart begeistert, dass sie dem US-Forscher Nicholas Genovese für drei Jahre eine Stelle finanziert. Er züchtet an der Universität Missouri-Columbia Fleisch aus Stammzellen. Schon 2008 hatten die Tierschützer medienwirksam 1 Mio. $ für Forscher ausgelobt, die bis 2012 marktfähiges Zuchtfleisch entwickeln.
Die Wurst von morgen könnte aus In-vitro-Fleisch sein
Noch kostet In-vitro-Fleisch je nach Verfahren zwischen 100 000 €/kg und 500 000 €/kg. Doch Studien deuten sein Potenzial an. So rechneten Hanna Tuomisto und Joost Teixeira de Mattos von der Uni Oxford jüngst in einer Studie für die internationale Fleischersatz-Lobbyisten von „New Harvest“ vor, dass biotechnische Fleischerzeugung mit einem Bruchteil der Ressourcen konventioneller Viehzucht auskommt. Diese beanspruche ein Drittel der weltweiten Landfläche und fast ein Zehntel des globalen Wasserbedarfs. Zudem trägt sie mit 18 % mehr zum Treibhausgasausstoß bei, als alle Verkehrsmittel zusammen. Dagegen ist die Fleischproduktion im Bioreaktor genügsam. Laut Studie sinkt der Energiebedarf je nach Nutztierart um bis zu 45 %, der Flächenbedarf um 99 % und auch der Wasserverbrauch und Treibhausgasausstoß nehmen um über 90 % ab.
Zwar sind diese Ergebnisse angesichts des frühen Forschungsstadiums der In-vitro-Fleischzucht und der Interessenlage der Auftraggeber mit Vorsicht zu genießen. Doch braucht es neue Ansätze, um den Fleischkonsum zu decken. Bis 2050 wird die Menschheit laut Welternährungsorganisation FAO doppelt so viel Fleisch verschlingen, wie im Jahr 2000. Die Menschen in den Schwellen- und Entwicklungsländern geben sich nicht mehr mit Reis und Gemüse zufrieden.
Die Fleisch-Createure führen nicht nur endliche Ressourcen ins Felde, um für ihre Idee zu werben. Auch der überbordende Einsatz von Antibiotika in der Massentierhaltung, Seuchen wie die Vogel- und Schweinegrippe oder Herz- und Kreislauferkrankungen infolge des Konsums tierischer Fette würden für Fleischzucht unter sterilen, definierten Randbedingungen sprechen. Und nicht zuletzt könnten auch exotische und bedrohte Tierarten auf den Speiseplan rücken, ohne ihren natürlcihen Bestand zu gefährden. Denn theoretisch reicht eine einzige Linie embryonaler Stammzellen, um die Welt mit Muskelgewebe zu versorgen.
In der Praxis gestaltet sich die Fleischzucht allerdings schwierig. So nehmen Forscher in den USA und den Niederlanden inzwischen Abstand von embryonalen Stammzellen, weil ihnen diese in der Vergangenheit immer wieder aus dem Zaum liefen. Statt Muskeln bildeten sie Knorpel, Fette oder Nervenzellen. Als zuverlässiger erweisen sich adulte Stammzellen, die in aufwändigen Verfahren aus gehackter Skelett-Muskulatur gewonnen werden. Besonders Satellitenzellen, die im Körper für Muskelregeneration und Aufbau zuständig sind, haben es den Forschern angetan. Denn wenn sie sich teilen, entstehen neben neuen Satellitenzellen jene feinen Filamente, aus denen sich skelettale Muskelfasern zusammensetzen.
Allerdings sind diese Zellen bei Weitem nicht so ergiebig wie embryonale Stammzellen. Damit sie sich ex-vivo teilen, wachsen und Stoffwechsel betreiben, brauchen sie konstant 37 °C, ausreichend Sauerstoff und den richtigen Nährstoffmix. Noch züchten die Forscher sie im Serum von Kälbern und Pferden, das extrem teuer ist. Künftig sollen Cyanobakterien die nötigen Proteine liefern, jene CO2-vertilgenden Bakterien also, die lange als „Blaualgen“ galten. Aufgezogen in offenen Becken sollen sie per Hydrolyse aufgebrochen und in Autoklaven entkeimt werden. Das Verfahren steckt in den Kinderschuhen, ist allerdings Grundlage der Berechnungen in der Oxforder Studie.
Von der Wurst weit entfernt: In-vitro-Fleisch schafft es derzeit auf die Fläche einer Streichholzschachtel
Auch mit den teuren Tierseren ist die Fleischzucht beschwerlich. Bisher wachsen die Stücke kaum über die Fläche einer Streichholzschachtel hinaus und auch das nur in Schichten von maximal 200 µm. In dickeren Schichten bricht die Nährstoffversorgung der inneren Zellen zusammen, was zum Zelltod führt. Um das zu umgehen, pflanzen Forscher der Uni Utrecht die Muskelzellen auf kleine Kollagen-Kügelchen, die auf Proteinen tierischer Bindegewebe basieren. Nicht nur diese Kugeln sollen das platte Laborfleisch in die dritte Dimension wachsen lassen. Die Ideen reichen bis dahin, Muskelzellen im Wechsel mit hauchdünnen Versorgungsmembranen per Ink-Jet-Drucker in 3-D-Strukturen zu bringen, sie auf geschäumte Polymer-Proteinstrukturen wachsen zu lassen oder mit sanften Laserpulsen dreidimensionale Fleischgebilde entstehen zu lassen.
Ob solche Verfahren zur Erzeugung zehntausender Tonnen Fleisch taugen, steht auf einem anderen Blatt. Das gilt auch für die Anregung der Muskelfasern. Sie brauchen Training. Wahlweise mit den genannten Stromschlägen, mechanisch oder durch Wechsel von Druck und ph-Wert im Reaktor. Doch dabei muss das Fleisch genießbar bleiben. Auch etwaige Hilfsmittel im Innern sollten sich rückstandsfrei entfernen oder mitessen lassen. Weitere offene Fragen: wie ist in Großreaktoren die Nährstoff- und Sauerstoffversorgung der einzelnen Zelle zu gewährleisten, wie bekommen die an sich farblosen Muskelfasern ein appetitliches Antlitz und vor allem, wie sollen jene Nährstoffe und Geschmäcker ins Fleisch gelangen, die im echten Leben an anderer Stelle im Tierkörper gebildet werden?
Agrar- und Lebensmitteltechnische Institute in aller Welt versuchen seit Langem, dem Geschmack von Fleisch auf die Schliche zu kommen. Klar ist nur, dass Muskeln und Steaks aus biochemischer Sicht nicht das Gleiche sind. So betonten die kanadischen Lebensmittelforscher Mirko Betti und Isha Datar jüngst in einem Journalbeitrag, dass erst nach dem Schlachten biochemische Prozesse ablaufen, die maßgeblichen Einfluss auf Geschmack, Geruch, Textur und das Erscheinungsbild von Fleisch haben. Darunter die Bildung von Milchsäure, der anaerobe Abbau von Zuckern oder der Zerfall von Proteinen und Enzymen. „Es ist völlig unklar, ob diese Prozesse auch nach der „Ernte“ von Zuchtfleisch auftreten werden“, schreiben sie.
Unklar sei auch der Nährstoffgehalt des Retortenfleischs. Mineralstoffe und Vitamine, die sich im Tierkörper im Zuge des Stoffwechsels bilden, müssten im Reaktor in synthetischer Form über die Nährlösungen zugesetzt werden. Das gilt gerade für das aus ernährungswissenschaftlicher Sicht so wichtige Vitamin B12, das Nutztiere im Darm bilden. Auch Eisen müsste zugesetzt werden – mit allen verfahrenstechnischen Schwierigkeiten in einem aeroben Prozess.
Damit die Fleischbrocken ohne Augen und Gefühle dennoch wie Fleisch schmecken, wollen die Forscher zwar gezielt Fett- und Knorpelzellen mitzüchten. Doch ohne Zusätze wird es aus heutiger Sicht kaum funktionieren. Ob sich Käufer davon überzeugen lassen, steht auf einem anderen Blatt. In Göteborg waren sich die Forscher einig, dass umweltbewusste, der Massentierhaltung gegenüber skeptische Verbraucher ihre potenziellen Erstkunden sein werden. Ob die sich tatsächlich von Fleisch locken lassen, das nur durch Zusätze künstlicher Geschmacks- und Nährstoffe funktioniert und in absolut steriler Umgebung unter Ausschluss der Natur erzeugt wird, steht in den Sternen. Womöglich wird der kleine Sven mit seiner Mutter also doch eher einen Gemüsegarten anlegen – und Fleisch nur von besonderen Festtagen her kennen.
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