Erderwärmung macht Gletscher als Klimaarchiv unbrauchbar
Ernüchterndes Ergebnis: Die fortschreitende Schmelze des Corbassière-Gletschers am Grand Combin in der Schweiz erschwert es zunehmend, präzise Daten über historisches Klima und Luftverschmutzung zu erhalten, da der Prozess schneller abläuft als angenommen.
Gletscher gelten als zuverlässige Quellen für vergangene Klimadaten und die Luftverschmutzung. Für den Corbassière-Gletscher am Grand Combin sind die Zeiten als Klimaarchiv jedoch vorbei – der Erderwärmung und der Gletscherschmelze sei Dank. Das ist das Ergebnis einer Gletschereis-Analyse, die Forschende des Paul Scherrer Instituts PSI gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen der Universität Fribourg und der Universität Ca‘ Foscari in Venedig sowie dem Institut für Polarwissenschaften des italienischen -Nationalen Forschungsrats (CNR) vorgenommen haben.
Das macht Gletscher als Klimaarchiv so wertvoll
Gletscher sind für die Klimaforschung von unschätzbarem Wert, da sie die Klimabedingungen und Atmosphärenzusammensetzungen vergangener Epochen in ihrem Eis bewahren. Sie fungieren als Klimaarchive, ähnlich wie Baumringe oder Meeressedimente, und bieten wertvolle Einblicke in die Klimageschichte.
Die Konzentrationen von partikelgebundenen Spurenstoffen wie Ammonium, Nitrat und Sulfat im Gletschereis variieren saisonal. Diese Stoffe gelangen aus der Luft auf den Gletscher, vornehmlich durch Schneefall. Im Sommer sind die Konzentrationen dieser Stoffe höher, da wärmere Temperaturen das Aufsteigen verschmutzter Luft aus dem Tal begünstigen. Im Winter hingegen sind die Werte niedriger, da die Kälte das Aufsteigen der verschmutzten Luft einschränkt.
Spurenstoffkonzentration flacht ab
Das Forschungsteam analysierte Eiskerne aus dem Corbassière-Gletscher am Grand Combin im Wallis, die in den Jahren 2018 und 2020 gebohrt wurden. Der 2018 entnommene Eiskern, der aus einer Tiefe von bis zu 14 Metern stammt und Ablagerungen bis ins Jahr 2011 enthält, zeigt erwartungsgemäß Schwankungen in den Daten.
Hingegen weist der 2020 gebohrte Kern, der aus bis zu 18 Metern Tiefe stammt und unter der Leitung von PSI-Forscher Theo Jenk entnommen wurde, solche Schwankungen nur in den obersten drei bis vier Jahresschichten auf. In tieferen Schichten, die weiter in der Vergangenheit liegen, nehmen die Schwankungen der Spurenstoffkonzentration ab, und die Gesamtmenge ist geringer. Diese Ergebnisse wurden in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins Nature Geoscience veröffentlicht.
Gletscherschmelze zwischen 2018 und 2020 zu stark
Margit Schwikowski, Leiterin des Labors für Umweltchemie am PSI, und Carla Huber, Doktorandin und Erstautorin der Studie kamen zu einem einigermaßen ernüchternden Ergebnis. Die Erklärung von Schwikowski für die beobachtete Diskrepanz lautet folgendermaßen: Im Zeitraum von 2018 bis 2020 muss die Intensität der Gletscherschmelze außergewöhnlich hoch gewesen sein. Dies führte dazu, dass vermehrt Wasser in den Gletscher eindrang, dabei Spurenstoffe aus der Oberfläche mitnahm und in tiefere Schichten transportierte.
Jedoch ist das Wasser, anstatt zu gefrieren und die Spurenstoffe zu konservieren, abgeflossen und hat diese mit sich fortgespült. Diese Dynamik veränderte die Zusammensetzung der Gletscherablagerungen erheblich und beeinträchtigte somit die historischen Aufzeichnungen, die in den Gletscherschichten gespeichert sind.
Die Umweltchemikerin vergleicht diesen Prozess mit einem Einbruch in eine Bibliothek, bei dem Bücher nicht nur durcheinandergeworfen, sondern ein Großteil davon entwendet und die verbleibenden Texte derart vermischt wurden, dass eine Rekonstruktion der originalen Inhalte unmöglich ist. Das Klimaarchiv wurde somit stark beeinträchtigt.
Forschenden von der Dynamik der Gletscherschmelze überrascht
Um ihre Untersuchungen zu verifizieren, hat das Forschungsteam hat die Wetterdaten von 2018 bis 2020 analysiert. Da am Grand Combin keine Wetterstation existiert, wurden Daten benachbarter Stationen aggregiert und auf die Region des Berges angepasst. Die Ergebnisse zeigen, dass die Temperaturen am Gletscher in diesem Zeitraum, entsprechend des allgemeinen Klimatrends, hoch waren, jedoch ohne extreme Abweichungen. „Daraus schliessen wir, dass es keinen singulären Auslöser dieser starken Schmelze gab, sondern dass sie aus den vielen warmen Jahren der jüngeren Vergangenheit resultiert“, sagt Schwikowski. „Offenbar wurde da eine Schwelle überschritten, was nun zu einer vergleichsweise starken Wirkung geführt hat.“
Das Phänomen am Grand Combin verdeutlicht eine dynamischere Gletscherschmelze, als bisher angenommen. Zwar war der Rückgang der Gletscherzungen bekannt, doch die starke Betroffenheit der Nährgebiete hochalpiner Gletscher – die obersten Regionen, wo neues Eis entsteht – kam unerwartet. Bisher untersuchte das Team die Verteilung von Sauerstoffisotopen im Eis, die Temperaturveränderungen anzeigen, und von ionischen Spurenstoffen wie Ammonium, Nitrat und Sulfat. Nun soll geprüft werden, inwiefern organische Substanzen im Eis von den Veränderungen betroffen sind.
Wie sieht es bei anderen Gletschern weltweit aus?
Schwikowski bestätigt in der Studie, dass der Grand Combin als Klimaarchiv bereits unbrauchbar ist. Die Situation bei anderen globalen Gletschern könnte ähnlich kritisch sein. Ein Wettlauf mit der Zeit zeichnet sich ab. Neben dem Gletscher Col du Dôme am Mont Blanc, wo 2016 erste Bohrungen erfolgten, ist nur noch der höhere und kältere Colle Gnifetti an der italienisch-schweizerischen Grenze als Klimaarchiv nutzbar. Dort entnahm das PSI-Team 2017 erfolgreich einen intakten Eisbohrkern.
Bereits gesicherte Kerne umfassen den Illimani in Bolivien, den Belucha im russischen Altai und den Elbrus im Kaukasus. Expeditionen in Spitzbergen und zum Col del Lys in Italien wurden durchgeführt, deren Ergebnisse stehen jedoch aus. Politische und behördliche Hindernisse verhinderten eine Expedition zum Kilimandscharo, der letzten bedeutenden Eismasse Afrikas. Das Projekt steht unter Zeitdruck, Erfolg ist nicht garantiert. Mit jedem Jahr steigt das Risiko von Rückschlägen, wie die Erfahrungen am Grand Combin zeigen.
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