Hochwasserschutz – werden Katastrophen vorhersehbar?
Viele Menschen werden unvorbereitet von Überflutungen oder Hangrutschen getroffen. Das könnte sich künftig ändern, denn ein ESA-Projekt beschäftigt sich mit der Vorhersage solcher Katastrophen mit Hilfe von Weltraumdaten.
Der Klimawandel macht es möglich: Die Flutkatastrophe im Ahrtal dürfte nur der Anfang gewesen sein, wie zahlreiche Hochwasser-Ereignisse in der jüngsten Vergangenheit zeigen. Allein in Europa gab es im Jahr 2023 Überschwemmungen in Italien, Österreich, Griechenland, Bulgarien oder der Türkei mit teils verheerenden Folgen. In Libyen sind laut UN rund 11.000 Tote zu beklagen. Nun wären wahrscheinlich nicht alle Menschen zu retten gewesen, durch bessere Vorhersagen und daraufhin eingeleitete Schutzmaßnahmen jedoch sicherlich einige davon.
Hier kommt die Technische Universität Wien ins Spiel, die eine neue Methode entwickelt hat, um solche Mega-Fluten deutlich besser vorhersagen zu können. Die Methode basiert auf internationalen Daten hydrologisch ähnlicher Gebiete. Finanziert von der ESA hat die TU Wien zudem zusammen mit dem italienischen National Research Council einen „digitalen Zwilling“ der Hydrosphäre entwickelt. Hierbei wird der Wasserkreislauf und die relevanten mit ihm verbundenen Phänomene pysikalisch korrekt am Computer nachgebildet.
Digitaler Zwilling macht Hochwasser-Katastrophen vorhersehbar
Das Konzept des „digitalen Zwillings“ ist in der Industrie schon lange ein Thema. Es ermöglicht die exakte Nachbildung komplexer Systeme, wie Produktionsanlagen, am Computer. Diese virtuellen Modelle können unter verschiedenen Bedingungen getestet werden, um ihr Verhalten vorherzusagen – ähnlich einem Flugsimulator, der das Ausprobieren von Flugmanövern ohne Risiken erlaubt.
Dr. Mariette Vreugdenhil vom Department für Geodäsie und Geoinformation der TU Wien hat das Konzept des digitalen Zwillings auf das globale Wassersystem erweitert. Im Rahmen eines Projekts der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) werden nun räumlich hochauflöste Daten gesammelt, um die Genauigkeit von Computersimulationen zu verbessern. Ziel ist es, die Auswirkungen bestimmter Bedingungen – wie Überflutungen oder Hangrutschungen – genauer vorhersagen zu können.
Satellitendaten mit hoher Auflösung notwendig
Prof. Wolfgang Wagner, Leiter des Forschungsbereichs Fernerkundung der TU Wien, erklärt die Bedeutung der Datenaufbereitung mit hoher Auflösung: „Hohe Auflösung heißt bei uns etwa: Ein Pixel pro Kilometer. Man verwendet dafür heute oft künstliche Intelligenz. Die trainiert man mit unterschiedlichen Datensätzen und hofft dann, auf diese Weise die Auflösung zu verbessern. Das ergibt zwar schöne Bilder, aber ob die etwas mit der Wirklichkeit zu tun haben, ist oft eine andere Frage.“
An der TU Wien hat sich das Forschungsteam daher für einen anderen Ansatz entschieden, Prof. Wagner erklärt: „Wir verfolgen einen rigorosen Ansatz. Unser Modell arbeitet mit physikalischen Formeln, von denen wir wissen, dass sie stimmen.“ KI und Machine Learning werden dabei unterstützend eingesetzt, um Parameter zu kalibrieren, was eine nachvollziehbare und erklärungsfähige Datenberechnung ermöglicht.
Von der Po-Ebene zu einem globalen Maßstab
Das Projekt begann mit der Abbildung der Po-Ebene in Italien, einer Region, die aufgrund ihrer geographischen und menschlichen Komplexität besondere Herausforderungen stellt. Ziel ist es, das Modell auf den gesamten Globus auszuweiten und die Abbildungsgenauigkeit weiter zu verbessern, um Prozesse in der Hydrosphäre mit einer Auflösung von bis zu 10 Metern darstellen zu können.
Das langfristige Ziel ist ein Computermodell, das nicht nur frühzeitig vor Gefahren warnt, sondern auch die Auswirkungen menschlicher Eingriffe auf die Wasserressourcen erklärt. Dadurch sollen nachhaltige Entscheidungen auf lokaler Ebene gefördert werden. „Diese gemeinsamen Bemühungen von Wissenschaft, Raumfahrtbehörden und Entscheidungsträgern versprechen eine Zukunft, in der ein digitaler Zwilling der Erde für die Hydrologie unschätzbare Erkenntnisse für ein nachhaltiges Wassermanagement und die Widerstandsfähigkeit gegen Katastrophen liefern“, unterstreicht Projektleiter Luca Brocca.
Einschätzung von Hochwasserrisiken
Die Einschätzung von Hochwasserrisiken erfordert eine umsichtige Betrachtung potenzieller Extremereignisse, insbesondere in überflutungsgefährdeten Gebieten. Traditionell basiert die Vorhersage solcher Risiken auf historischen Daten der schlimmsten bekannten Überschwemmungen. Jedoch haben jüngste „Mega-Fluten“ gezeigt, dass diese Methode zu Fehleinschätzungen führen kann, da sie Ereignisse von unerwartetem Ausmaß nicht immer miteinbezieht.
In einer 2023 veröffentlichten Studie zeigen Forschende der TU Wien einen anderen Weg auf. Durch die Analyse von Hochwasserdaten im gesamteuropäischen Kontext statt nur lokaler Ereignisse hat das Forschungsteam festgestellt, dass solche extremen Überschwemmungen vorhersagbarer sind als zuvor angenommen. Dadurch lassen sich Hochwasserschutzmaßnahmen ganz anders planen als bisher. Die Ergebnisse der Studie wurden im Wissenschaftsjournal „Nature Geoscience“ veröffentlicht.
Blick auf das große Ganze bringt den Durchbruch
Im Jahr 2021 kam es zur Flutkatastrophe im Ahrtal und Belgien, bei der insgesamt 220 Menschen starben. Die Intensität dieser „Mega-Flut“ übertraf alle Erwartungen. Professor Günter Blöschl, Leiter des Instituts für Wasserbau und Ingenieurhydrologie an der Technischen Universität Wien und Leiter der zugehörigen Studie, erläutert die Schwierigkeiten bei der Vorhersage solch extremer Naturereignisse. Demnach stützen sich bisherige Prognosemethoden auf statistische Analysen regionaler Hochwasserhistorien, mit einer hohen Vorhersagewahrscheinlichkeit für moderate Überschwemmungen und einer geringeren für größere.
Die Wiener Forschungsgruppe wagte einen Blick auf das große Ganze. Für ihre Studie wertete sie die Daten von über 8000 europäischen Messstationen aus, die Zeiträume von 1810 bis 2021 umspannen. „Der entscheidende Schritt war, für die Analyse bestimmter Flussgebiete auch Daten aus anderen ähnlichen Flussgebieten mit einfließen zu lassen“, erklärt Dr. Miriam Bertola vom Institut für Wasserbau und Ingenieurhydrologie an der TU Wien, die Erstautorin der aktuellen Publikation. „Jedem hydrologischen Einzugsgebiet lassen sich andere Einzugsgebiete zuordnen, die klimatisch und hydrologisch ähnliche Parameter aufweisen.“
Flutkatastrophe im Ahrtal lag im erwartbaren Bereich
Die Flutkatastrophe im Ahrtal traf Verantwortliche und Bewohner relativ überraschend, das Forschungsteam konnte nun zeigen, dass sie vorhersehbar gewesen wäre. Man hätte nur die Daten aus anderen Gebieten mit einbeziehen müssen. Denn wenn man die historischen Hochwasserdaten aus ganz Europa mit einbezieht, wird nach Auskunft der Forschenden plötzlich eine Struktur sichtbar.
So könne man dann eine Obergrenze bestimmen, die das Maximum darstellt, was an Hochwasserereignissen möglich ist. In ihren Studien kamen die Wiener Forschenden zu dem Ergebnis, dass selbst Mega-Fluten wie die im Ahrtal unter dem liegen, was als Obergrenze berechnet wurde. Vereinfacht gesagt: Je größer die verwendete Datenmenge, desto besser wird aus einem statistischen Ausreißer ein erwartbares Ereignis.
„Wichtig ist, dass man dabei nicht unbedingt nur geografisch benachbarte Gebiete berücksichtigt, sondern Gebiete mit ähnlichen Bedingungen – die können sich auch weiter entfernt befinden“, betont Günter Blöschl. „Es ist daher von entscheidender Bedeutung, über die nationale Bewertung des Hochwasserrisikos hinauszugehen und Informationen über Mega-Fluten länder- und kontinentübergreifend auszutauschen, um den Überraschungsfaktor ihres Auftretens zu verringern und Menschenleben zu retten.“
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