Istanbuls Angst vor einem kommenden Mega-Erdbeben
Die neue Bebenserie bei Istanbul erhöht die Sorge vor einem verheerenden Starkbeben – Experten warnen vor steigender Spannung in der Erdkruste.

Istanbul wächst und wächst, der Erdbebenschutz wird dabei oft vernachlässigt. Entsprechend hoch ist die Angst vor einem Megabeben.
Foto: PantherMedia / monticello
Erst vorige Woche haben wir darüber berichtet, dass die Hagia Sophia erdbebensicher gemacht werden soll. Der Grund: Istanbul liegt ungünstig in einer Region mit hoher seismischer Aktivität. Das musste die Millionenmetropole am Nachmittag des 23. April wieder erfahren. Passiert ist nicht viel, doch die Angst vor einem zerstörerischen Megabeben nimmt zu. Schon lange warnen Experten davor und es gibt Hinweise, dass die Bebenserie bei Istanbul ein verheerendes Starkbeben wahrscheinlicher gemacht hat.
Inhaltsverzeichnis
Update 25. April: Weitere Nachbeben in Istanbul
Am frühen Freitagmorgen hat erneut ein Beben Istanbul erschüttert. Laut der türkischen Katastrophenschutzbehörde Afad lag die Stärke bei 4,5 auf der Richterskala. Zwar war es nicht so stark wie das Erdbeben am Mittwoch, doch die Sorge der Bevölkerung wächst. Viele Menschen wagten es nicht, in ihre Wohnungen zurückzukehren. Sie verbrachten die Nacht auf der Straße oder in Parks – aus Angst vor weiteren, möglicherweise stärkeren Nachbeben.
Diese Unsicherheit begleitet die Menschen in der türkischen Metropole seit Jahren. Istanbul liegt in einer erdbebengefährdeten Region. Fachleute warnen seit Langem vor einem großen Beben mit einer Stärke von mehr als sieben. Ein solches Ereignis gilt unter Seismologinnen und Seismologen als überfällig.
Alltag trotz Angst
Trotz der anhaltenden Gefahr versuchen viele Menschen, so etwas wie Alltag aufrechtzuerhalten. Die Rückkehr zur Normalität ist für viele jedoch keine bewusste Entscheidung, sondern oft die einzige Möglichkeit. Denn Istanbul zu verlassen oder in sichere Wohnungen umzuziehen ist für die meisten schlicht nicht machbar.
Die wirtschaftliche Lage in der Türkei macht es schwer, Alternativen zu finden. Lebensmittel, Mieten und Energiekosten sind in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Viele Menschen leben am Existenzminimum. Selbst wenn sie wollten – einen sicheren Ort zum Leben oder gar eine neue Arbeitsstelle außerhalb der Stadt zu finden, ist für die Mehrheit unrealistisch.
Auch innerhalb der Stadt stellt sich die Lage schwierig dar. Selbst wer in Istanbul bleiben möchte, kann sich einen Umzug in ein als erdbebensicher eingestuftes Gebäude kaum leisten. Die Mietpreise sind drastisch gestiegen. Das Angebot an sicheren Wohnungen ist gering – vor allem für Menschen mit geringem Einkommen.
„In Särgen, nicht in Wohnungen“
In Istanbul leben fast 20 % der türkischen Bevölkerung. Die Stadt ist das wirtschaftliche Zentrum des Landes – und gleichzeitig eines der größten Risikogebiete für ein schweres Erdbeben. Mehr als eine Million Gebäude gelten dort als nicht ausreichend gesichert.
Die Kritik an dieser Situation wächst. Politikerinnen und Politiker der Opposition werfen der Regierung mangelndes Engagement vor. Ein Abgeordneter der nationalkonservativen Iyi-Partei sagte im Parlament: „Die Menschen leben in Särgen, nicht in Wohnungen.“ Für viele in der Bevölkerung trifft diese Beschreibung den Kern des Problems.
Der bekannte politische Kommentator Levent Gültekin äußerte sich in einem Video ähnlich drastisch: „Wir warten auf das Erdbeben wie die Schafe auf das Schlachten.“ Solche Aussagen zeigen, wie groß das Vertrauen in die Behörden ist – nämlich kaum vorhanden.
Gegenseitige Schuldzuweisungen
Die Verantwortung für die mangelhafte Vorbereitung auf ein schweres Erdbeben liegt nicht nur bei der Zentralregierung in Ankara. Auch die Stadtverwaltung steht in der Kritik. Lange war sie unter der Führung der oppositionellen CHP – bis vor Kurzem mit Bürgermeister Ekrem Imamoglu an der Spitze. Dieser wurde mittlerweile abgesetzt und inhaftiert. Mit ihm wurde auch der Leiter der Istanbuler Stadtplanungsbehörde IPA festgenommen – ein Schlüsselakteur in der Erdbebenprävention.
Beide Seiten werfen sich gegenseitig vor, wichtige Projekte zu blockieren. Die Regierung beschuldigt die CHP-geführte Stadtverwaltung, versäumt zu haben, nötige Schutzmaßnahmen umzusetzen. Die Opposition wiederum sagt, ihre Initiativen seien systematisch durch Ankara behindert worden.
Die politischen Auseinandersetzungen lähmen die Stadt. Währenddessen steigt das Risiko. Fachleute warnen, dass nicht nur die marode Bausubstanz ein Problem ist. Auch die Notfallpläne für Evakuierungen sind unzureichend. Es fehlt an Infrastruktur, die in einem Katastrophenfall greifen könnte – etwa an sicheren Sammelstellen, Notunterkünften oder einer ausreichenden Aufklärung der Bevölkerung.
Legalisierte Risiken
Ein weiteres Problem sind die sogenannten Bauamnestien. Immer wieder hat die Regierung in der Vergangenheit illegal errichtete Gebäude nachträglich legalisiert – auch in Istanbul. Diese Praxis hat dazu geführt, dass viele unsichere Bauten nie abgerissen oder verstärkt wurden. Korruption und eine schwache Bauaufsicht verschärfen die Lage zusätzlich.
„Diese Tage sind keine Zeit für politische Diskussionen“, sagte Präsident Recep Tayyip Erdogan zuletzt. Man solle sich „an Einheit und Brüderlichkeit erinnern“. Doch viele Bürgerinnen und Bürger empfinden solche Aussagen als Ausrede. Denn das eigentliche Problem – die Sicherheitslage in einer Millionenstadt auf einem Erdbebenherd – bleibt ungelöst.
Meldung 23. April: Neue Beben – alte Sorgen
Am 23. April 2025 erschütterten mehrere Erdbeben die Gegend westlich von Istanbul. Die stärksten hatten Magnituden von 6,2 und 5,3. Größere Schäden blieben aus. Doch das beruhigt Fachleute nicht – im Gegenteil: Die Erdstöße trafen eine Zone, die seit Jahrhunderten unter hoher Spannung steht. Sie könnte das nächste große Beben auslösen.
Istanbul liegt am Rand eines gewaltigen Bruchsystems in der Erdkruste. Im Zentrum steht die sogenannte Marmarameer-Hauptverwerfung. Diese erstreckt sich westlich der Stadt bis ins Mittelmeer. Ihr östlicher Abschnitt hat seit über 250 Jahren kein schweres Erdbeben mehr ausgelöst. Die letzte Katastrophe dieser Art war 1766. Damals zerstörte ein Beben der Stärke 7 große Teile der Stadt.
Das Beben vom 23. April
Am 23. April 2025 wurde Istanbul von zwei kräftigen Erdbeben erschüttert – das erste mit einer Stärke von 6,2, gefolgt von einem zweiten mit 5,3. Das Epizentrum lag westlich der Stadt im Marmarameer. Es war das stärkste Erdbeben in der Region seit über 25 Jahren.
Zwar gab es laut Gouverneursamt keine eingestürzten Gebäude, dennoch verbrachten viele Menschen die Nacht im Freien – aus Angst vor Nachbeben und weiteren Erschütterungen. Der Katastrophenschutz Afad registrierte bis zum Abend 184 Nachbeben.
Zwölf Gebäude wurden vorsorglich evakuiert. Mehr als eine Million Bauwerke gelten als nicht ausreichend gesichert. Fachleute warnen: Ein starkes Erdbeben könnte Zehntausende Todesopfer fordern. Die Ursache sehen sie unter anderem in mangelhafter Bausubstanz.
Gesundheitsminister Memisoglu meldete 236 Verletzte – 173 davon in Istanbul. Einige erlitten Verletzungen beim Versuch, aus Gebäuden zu fliehen.
Präsident Erdogan versprach, dass alle staatlichen Kräfte rund um die Uhr einsatzbereit seien. Doch die Sorge in der Bevölkerung bleibt groß.
Ein gefährliches Puzzle unter der Erde
Die Marmarameer-Verwerfung ist ein Teil der Nordanatolischen Verwerfung, die sich über 1500 Kilometer durch die Türkei zieht. Hier treffen zwei Kontinentalplatten aufeinander: die Anatolische und die Eurasische Platte. Sie reiben mit etwa zwei Zentimetern pro Jahr aneinander. Meist geschieht das in kleinen Sprüngen – Erdbeben.
Doch südlich von Istanbul liegt ein Segment, das sich seit langer Zeit nicht mehr bewegt hat. „Insgesamt ist in dieser Verwerfung Energie für ein Erdbeben einer Magnitude bis hin zu 7.4 gespeichert“, sagt Marco Bohnhoff vom GFZ in Potsdam. Das wäre rund 60-mal stärker als das jüngste Beben. Und es wäre nah – kaum 20 Kilometer von der Millionenstadt entfernt.
Katastrophenszenarien: Was ein großes Beben bedeuten würde
Istanbul ist schlecht vorbereitet auf ein starkes Erdbeben. Rund 70 % der Gebäude gelten als nicht ausreichend gesichert. Eine Studie der Stadtverwaltung rechnet bei einem Beben der Magnitude 7,5 mit etwa 14500 Toten. Manche Fachleute halten auch deutlich höhere Opferzahlen für möglich.
Die Frage ist nicht, ob ein großes Beben kommt, sondern wann. Forschende beobachten seit Jahrzehnten, wie sich Spannungen entlang der Nordanatolischen Verwerfung verschieben – von Osten nach Westen. Bei jedem großen Beben bricht ein weiteres Segment. Seit 1939 hat sich so eine Art „Erdbebenwanderung“ vollzogen. Der letzte schwere Bruch war 1999 bei Izmit. Jetzt ist Istanbul an der Reihe.

Blick auf die Anatolische Platte, die für Istanbul eine große Gefahr bildet. Ganz im Westen am Marmarameer, wo auch die Millionenmetropole liegt, ist seit 1766 eine Hauptverwerfung blockiert. Dort könnte sich ein Megabeben lösen.
Foto: PantherMedia / Pawel Zelwan
Warum gerade jetzt die Sorge wächst
Die jüngste Bebenserie fand in einer besonders heiklen Region statt – direkt am westlichen Ende des verhakten Segments. In dieser Übergangszone zwischen stabilen und aktiven Bereichen kann sich Spannung besonders leicht aufbauen oder verlagern.
„Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es zwei Szenarien: Entweder ist die unmittelbare Region nun vorerst entspannt und die Seismizität klingt langsam ab“, sagt Marco Bohnhoff. „Oder die durch das Beben erzeugten Spannungsumlagerungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit für ein größeres Erdbeben in der Region.“
Ein kleineres Beben kurz nach der Haupterschütterung spricht für Letzteres. Es ereignete sich südlich von Istanbul – weiter östlich, wo das Gestein bisher verkeilt war. Es hatte deutlich weniger Energie, deutet aber auf einen gestiegenen Druck hin.
Komplexe Prozesse unter dem Marmarameer
Unter dem Marmarameer ist die Erdkruste in Bewegung. Vier große Krustenblöcke rotieren dort wie Zahnräder zwischen den Platten. Das macht Vorhersagen schwer. Die Geologie ist hier nicht so klar wie in anderen Teilen der Verwerfung. Ein einfaches „Bruchstück für Bruchstück“-Modell greift nicht.
Die Energie kann sich auf vielen Wegen entladen – auch über kleinere, kaum erkennbare Spannungsverlagerungen. Der Übergangsbereich zwischen Gleitbewegung im Westen und Verkeilung im Osten ist daher besonders kritisch.
Wann kommt das große Beben?
Diese Frage kann niemand beantworten. Doch vieles spricht dafür, dass es näher rückt. Die letzten großen Erdbeben in der Region – etwa bei Izmit und Düzce – haben die Spannung weiter westlich aufgebaut. Nun kommen neue Spannungen auch von Osten. Sie konzentrieren sich auf das Segment südlich von Istanbul. Und dort warten sie offenbar nur auf den richtigen Moment.
Was hilft? Nur vorbeugen. Gebäude müssen nachgerüstet, Rettungssysteme vorbereitet, die Bevölkerung informiert werden. Denn das nächste große Beben wird kommen. Wann – das bleibt offen.
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