Schweizer Ingenieure ließen 111 bunte Steine ins Tal kullern
Runde Steine rollen weiter, eckige springen höher: Das ist keine Spielerei, sondern lebenswichtiges Wissen in Steinschlag-Regionen. Schweizer Forscher haben in aufwendigen Experimenten präzise Daten über das Rollverhalten von Steinen gesammelt. Die Erkenntnisse sollen in eine Steinschlag-Simulations-Software einfließen.
Am Schweizer Oberalppass, der die Kantone Graubünden und Uri verbindet, standen in diesem Sommer Männer und Frauen und kullerten bunt bemalte Steine in die Tiefe. Andere wiederum hielten das Spektakel mit Videokameras fest.
Was aussieht wie eine Mischung zwischen einem Murmelspiel für Riesen und Auswüchsen einer für Fremde unverständlichen Tradition, hat jedoch einen ernsten Hintergrund: Bei den bunten Felsbrocken, die ins Tal trudelten, kullerten, rutschten oder sprangen, handelte es sich um ein Experiment. Es diente dazu, Daten für das Bewegungsmuster einzelner Felsbrocken bei Steinschlägen zu ermitteln.
Steine suchen sich individuelle Wege
Die Menschen, die die Steine über die Kante des Hangs befördert haben, sind ebenso wie die Filmer Forschende der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL). Innerhalb einer Woche haben sie 111 Steine mit einem Gewicht zwischen 25 und 80 Kilo ins Rollen gebracht.
In Bewegung gesetzt wurden alle Steine an fünf Standorten – trotzdem rollten die Brocken nicht in immer derselben Bahn hinunter, sondern suchten sich ihren individuellen Weg ins Tal. Schon der reine Augenschein machte deutlich: Irgendwie hat der Weg, den sich der Stein sucht, etwas mit seiner Form zu tun.
Die Forscher wollten es jedoch genau wissen, schließlich soll das Experiment helfen, Steinschläge besser zu verstehen und sich dementsprechend besser zu wappnen – ein unter Umständen lebenswichtiges Wissen in Alpenländern wie der Schweiz, aber auch anderen Regionen mit Bergen, die sich hin und wieder von einem Teil ihrer Felsmasse trennen.
Neuseeland ist solch ein Kandidat: Im Februar 2011 zum Beispiel löste ein Erdbeben der Stärke 6,5 in der Region Port Hills eine Reihe von Steinrutschen aus, die 200 Häuser zerstörten und fünf Menschen töteten. Deshalb arbeiten die Neuseeländische Behörde „Canterbury Earthquake Recovery Authority“ zum Schutz vor Erdbeben, das Forschungsinstitut GNS Sciences und der Fachbereich Geologie der Canterbury University eng mit den Schweizern zusammen und ließen bereits im Mai gemeinsam mit ihnen Felsen den Abhang herunterrollen. Allerdings waren die Versuchsbrocken auf der anderen Seite des Erdballs ein wenig anders dimensioniert: Statt 25 bis 80 Kilo wogen die Steine in Neuseeland 500 bis 10.000 Kilo.
Bewegungssensoren liefern präzise Daten
Um genaue Daten zu erhalten, bohrten die Forscher bei beiden Versuchsreihen die Felsbrocken an und platzierten in ihrem Innern jeweils einen höchst empfindlichen Bewegungssensor. Dieser Sensor, der auf derselben Technik beruht wie die Sensoren zur Bildschirmausrichtung bei Smartphones, misst 900-mal pro Sekunde Beschleunigung und Drehgeschwindigkeit.
Diese Daten wiederum sendet er zehnmal pro Sekunde an Empfänger, die in der Nähe aufgestellt sind. Diese leiten die Daten direkt an einen Computer weiter. Außerdem filmten die Wissenschaftler die Sprung-, Sturz- und Rollphasen, um sie anschließend mit Hilfe der Bemalung der Steine nachzuvollziehen.
Noch dauert die Auswertung dieser Datenmassen an, erste Ergebnisse gibt es nach Angaben der WSL jedoch bereits. Diese bestätigen, was man schon mit bloßem Auge erkennen konnte: Je runder ein Stein war, desto weiter rollte er, und je eckiger der Brocken, desto höhere Sprünge machte er.
Auch die Auswirkung der Bodenbeschaffenheit auf die Roll-, Sturz- und Sprungbahn der Steine interessierte die Forscher. Um herauszufinden, wie diese Komponenten zusammenhängen, ließen sie dieselben Steine an unterschiedlichen Stellen ins Tal rollen. Dabei zeigen schon die vorläufigen Ergebnisse, dass eine Wiese oder ein anderer weicher Untergrund den Fall bremst. Harter, felsiger Untergrund dagegen bewirkt vor allem bei kantigen Steinen gewaltige Sprünge und hohe Drehgeschwindigkeiten.
Erkenntnisse fließen in die Simulation RAMMS::Rockfall
Mit den Ergebnissen ihres Experiments wollen die Forscher Steinschläge zum einen unmittelbar besser verstehen. Gleichzeitig helfen die Daten, das bereits im vergangenen Jahr fertiggestellte Steinschlag-Simulationsprogramm RAMMS::Rockfall des zum WSL gehörenden Instituts für Schnee und Lawinenforschung weiterzuentwickeln.
RAMMS steht dabei für „Rapid Mass Movement Simulation“ – zu Deutsch so viel wie „Simulation schneller Massenbewegung“. Dieses Programm dient dazu, Steinschläge im Gebirge vorherzusagen und die wahrscheinlichen Auswirkungen aufgrund von Stein- und Bodenbeschaffenheit zu berechnen.
Am Computer lassen sich mit Hilfe des Programms bereits jetzt realistische Steinformen erzeugen sowie Geländeformen und Vegetation realitätsnah darstellen. Aufgrund von hinterlegten Kontaktgesetzen berechnet RAMMS Flugbahnen und zeigt, wo die Steine voraussichtlich landen – die gefährlichste Zone bei einem Steinschlag. Dabei stützt es sich bis dato auf reale Ereignisse aus der Vergangenheit. Mit den aktuellen Ergebnissen soll das Instrument jedoch noch präziser werden und helfen, möglichst genaue Gefahrenkarten zu erstellen – für die Schweiz, für Neuseeland und andere von Steinschlag bedrohte Regionen.
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