Seeigel bekommen im sauren Wasser Verdauungsprobleme
Die zunehmende Versauerung der Ozeane gefährdet viele winzigen Meeresbewohner in ihrer Existenz. Kleinstlebewesen wie Plankton, aber auch Korallen, fällt es immer schwerer, unter sauren Bedingungen Kalkschalen auszubilden. Jetzt zeigt sich: Seeigeln schlägt das saure Wasser dazu noch gehörig auf den Magen.
Der wissbegierige Mensch war vor fast 45 Jahren erstmals auf dem Mond, er bereitet emsig den ersten bemannten Flug zu unserem Nachbarplaneten Mars vor. Doch die Meere dieser Welt, die Ozeane, sind noch zu großen Teilen weiße Flecken auf der Forscher- und Entdeckervita des Menschen. Dabei sind die Prozesse, die unsichtbar in den nassen Tiefen der Meere geschehen, für das Leben auf der Erde von großer Bedeutung. So nehmen die Ozeane als gigantische sogenannte „Senken“ ein Viertel des von Menschen produzierten Kohlendioxids auf. Dadurch tragen sie dazu bei, den Klimawandel zu verlangsamen, der ohne diesen natürlichen Kohlendioxidspeicher sehr viel schneller und stärker ablaufen würde.
Es geht um richtig große Mengen des Treibhausgases: Seit Beginn der industriellen Revolution Mitte des 19. Jahrhunderts haben Menschen allein durch die Verbrennung fossiler Energieträger wie Kohle, Erdgas und Erdöl rund 440 Milliarden Tonnen Kohlendioxid in die Atmosphäre gepustet. Das entspricht einem mit flüssigem Kohlendioxid beladenen Güterzug von einer Länge dreieinhalbmal zum Mond und zurück. Der erste Mann im Mond, Neil Armstrong, hätte ganz ohne Apollo-Rakete einfach auf diesem Güterzug zum Mond spazieren können.
Versauerung der Ozean bedroht die maritime Nahrungskette
Diese mehr als 110 Milliarden Tonnen Kohlendioxid, die bisher durch menschliche Aktivitäten in die Ozeane des blauen Planeten gelangt sind, verändern dort den Säuregehalt, den pH-Wert des Wassers: Es wird saurer, weil das Kohlendioxid im Meer zu Kohlensäure reagiert. Bisher bekannt war, dass diese Versauerung der Ozeane zu einer Gefahr für große und kleine Lebewesen wird, die ihre Schalen und Skelette aus Kalk aufbauen. Denn durch diese Versauerung der Ozeane sind im Wasser weniger Karbonat-Ionen verfügbar.
Genau diese benötigen aber die kalkschalen-bildenden Lebewesen wie Algen und Plankton, Muscheln, Schnecken, Seeigel und Korallen für ihr Wachstum. Viele diese winzigen Meeresbewohner wie das Plankton stehen ganz unten am Beginn der maritimen Nahrungskette. Ein Problem, welches in Zukunft auch die Ernährung der Menschen empfindlich stören kann.
Saures Wasser schlägt Seeigeln auf den Magen
Wissenschaftler aus Schweden von der Universität Göteborg und Deutschland – hier von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) und vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel – haben jetzt herausgefunden, dass die Versauerung der Meere den stummen Bewohnern noch mehr abverlangt als den Stress der erschwerten Kalkschalenbildung durch den gesunkenen pH-Wert im Meer. Am Beispiel des ökologisch wichtigen grünen Seeigels mit dem zungenbrecherischen botanischen Namen Strongylocentrotus droebachiensis konnten sie nachweisen, dass diesen Meeresbewohnern das saure Wasser förmlich auf den Magen schlägt: Sie können nur noch schwer ihre Nahrung verdauen.
Grüner Seeigel ist winzige Fressmaschine
Pluteuslarven des grünen Seeigels sind winzige, etwa 0,3 mm lange „Fressmaschinen“, die sich im Plankton mehrere Wochen lang von Algen ernähren, bevor sie dann eine Metamorphose durchlaufen und ihr Leben am Meeresboden beginnen. Seit kurzem ist bekannt, dass Pluteuslarven in versauertem Meerwasser langsamer wachsen und einen höheren Energieverbrauch aufweisen.
„Meine Messungen zeigten eine sehr starke Abhängigkeit der Verdauung vom pH-Wert“, erklärt Dr. Meike Stumpp, die als Postdoktorandin an der Universität Göteborg ein neues Testverfahren entwickelt hat, um die Verdauung und Verdauungsenzyme der Larven dieses Seeigels zu untersuchen. „Die Enzyme in den Mägen der Seeigel funktionieren bei hohen pH-Werten optimal. Das unterscheidet diese Organismen eindeutig von Säugetieren, deren Magenflüssigkeit sauer ist und deren Enzyme bei niedrigen pH-Werten am besten arbeiten.“
Verdauung dauert länger und ist weniger effektiv
Die jetzt in der internationalen Fachzeitschrift Nature Climate Change veröffentlichten Ergebnisse sind eindeutig: Die Verdauung dauert länger und ist weniger effektiv, wenn die Larven in angesäuertem Seewasser leben. „Im angesäuerten Wasser mussten die Larven mehr Energie aufbringen, um den hohen pH-Wert in ihren Mägen zu erhalten“, stellt Dr. Marian Hu fest. Der Co-Erstautor der Studie wies mit Antikörper-Färbe-Verfahren eine hohe Konzentration von pH-regulatorischen Zellen an der inneren Magen-Oberfläche nach.
Kulturexperimente und Fütterungsversuche zeigten, dass die Larven deutlich mehr fressen, um die verringerte Effizienz der Verdauung zu kompensieren. „Wenn die Organismen den zusätzlichen Energiebedarf, der sich durch die Ozeanversauerung ergibt, nicht durch die Nahrungsaufnahme decken können, wachsen sie eventuell schlechter oder sind weniger fruchtbar. Im Extremfall sterben sie“, unterstreicht Dr. Sam Dupont von der Universität Göteborg, Senior-Autor der Studie.
„Aufregende Zeiten für die interdisziplinäre Meeresforschung“
„Da sich frühere Studien vor allem auf das Verständnis der Kalkbildung konzentrierten, wurden andere lebenswichtige Abläufe wie Verdauung und die Regulierung des pH-Werts im Magen vernachlässigt“, urteilt Meike Stumpp. „Wir können nun zeigen, dass sie viel mehr Aufmerksamkeit verdienen.“
„Diese Studien zeigen, dass unser Verständnis der Funktionsweisen von frühen Lebensstadien selbst der gewöhnlichsten Meeresorganismen noch in den Kinderschuhen steckt“, resümiert Prof. Frank Melzner, der am GEOMAR in Kiel die Arbeitsgruppe Ökophysiologie leitet. „Aufregende Zeiten für die interdisziplinäre Meeresforschung.“
Detlef Stoller, Ingenieur und Autor dieses Beitrages, hat auch einen Öko-Thriller zum Thema geschrieben. Eine Vorstellung des Buches finden Sie hier.
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