Tiefsee-Überraschung: Neue Ökosysteme unter Eisberg A-84
Forschende entdecken artenreiche Gemeinschaften uralter Schwämme und Korallen in einem durch den Abbruch des Eisberges A-84 neu freigelegten Gebiet.

Das Forschungsschiff Falkor manövriert zwischen Eisbergen, während es Untersuchungen im Bellingshausen-Meer vor der Antarktis durchführt.
Foto: Alex Ingle / Schmidt Ocean Institute
Durch den Abbruch des antarktischen Eisbergs A-84 wurde eine bislang unerforschte Fläche des Meeresbodens freigelegt. Ein internationales Forschungsteam nutzte die Gelegenheit zu einer einmaligen Expedition und stieß in bis zu 1300 Metern Tiefe auf artenreiche Ökosysteme mit Schwämmen, Korallen und zahlreichen Tiefseebewohnern. Die Ergebnisse liefern neue Einblicke in das Leben unter antarktischen Schelfeisen – und in die Auswirkungen des Klimawandels.
Inhaltsverzeichnis
Eisberg von der Größe Chicagos
Als sich am 13. Januar der Eisberg A-84 vom George-VI-Schelfeis löste, hatte das nicht nur klimatische, sondern auch wissenschaftliche Konsequenzen. Der riesige Eisblock mit einer Fläche von etwa 510 Quadratkilometern – vergleichbar mit der Größe von Chicago – trieb langsam entlang der antarktischen Küste. Was dabei sichtbar wurde, war bislang vom Eis verborgen: ein Stück Meeresboden, das über Jahrhunderte im Dunkeln lag.
Ein internationales Team von Forschenden erkannte sofort die Chance. Sie befanden sich zu dieser Zeit mit dem Forschungsschiff R/V Falkor (too) des Schmidt Ocean Institute in der Nähe. Ursprünglich war die Mission auf andere Ziele ausgerichtet. Doch der plötzliche Eisverlust änderte alles. Expeditionsleiterin Dr. Patricia Esquete von der Universität Aveiro erklärt:
„Wir haben die Gelegenheit sofort genutzt, unseren Expeditionsplan geändert und sind losgezogen, um zu erforschen, was in den Tiefen unter den Eismassen geschieht.“

Der neu freigelegte antarktische Meeresboden ermöglichte es dem Team auch, entscheidende Daten über das frühere Verhalten des Eisschildes zu sammeln. Der Eisschild schrumpft und verliert seit mehreren Jahrzehnten aufgrund des Klimawandels an Masse.
Foto: Alex Ingle / Schmidt Ocean Institute
Ferngesteuert in unbekannte Gebiete
Bereits am 25. Januar erreichte das Team das neu freigelegte Gebiet in der Bellingshausensee. Sie waren die Ersten, die diesen Meeresboden jemals zu Gesicht bekamen. Das ferngesteuerte Unterwasserfahrzeug ROV SuBastian kam zum Einsatz, um den Tiefseeboden zu untersuchen. Acht Tage lang zeichnete es hochauflösende Bilder aus Tiefen bis zu 1300 Metern auf.
Was das Team dort entdeckte, überraschte viele: große Schwämme, lebende Korallen und eine Vielfalt an Tieren wie Eisfische, Oktopusse und Seespinnen. Diese Artenvielfalt widerspricht bisherigen Annahmen, dass das Leben unter dicken Eisschichten besonders karg sei.
„Wir hatten nicht erwartet, ein so schönes, blühendes Ökosystem zu finden. Aufgrund der Größe der Tiere gehen wir davon aus, dass diese Gemeinschaften seit Jahrzehnten, vielleicht sogar seit Hunderten von Jahren existieren“, so Esquete.
Auch Prof. Dr. Pedro Martínez Arbizu von Senckenberg am Meer war vor Ort. Er ergänzt:
„Wir waren überrascht von der erheblichen Biomasse und Biodiversität der Ökosysteme und sind uns sicher, dass es auf diesem nun zugänglichen Gebiet zahlreiche neue Arten zu entdecken gibt.“
Eine Welt ohne Sonnenlicht – und doch voller Leben
Die Lebensbedingungen in diesen Tiefen gelten als extrem. Normalerweise sind Tiefsee-Ökosysteme auf Nährstoffe angewiesen, die langsam aus oberen Wasserschichten nach unten sinken. Doch unter 150 Metern dickem Eis kommt davon kaum etwas an. Wie konnten sich dort dennoch solche Lebensgemeinschaften entwickeln?
Die Forschenden vermuten, dass Meeresströmungen eine Rolle spielen. Diese könnten Nährstoffe seitlich in das Gebiet transportieren. Noch ist dieser Mechanismus nicht abschließend geklärt, aber die Expedition liefert erste Hinweise. Weitere Analysen sollen folgen.

Ein großer Schwamm, eine Gruppe von Seeanemonen und andere Lebewesen sind in einer Tiefe von fast 230 Metern zu sehen – in einem Bereich des Meeresbodens, der bis vor Kurzem noch von Schelfeis bedeckt war. Die Größe des Schwammes deutet darauf hin, dass diese Lebensgemeinschaft seit Jahrzehnten, eventuell sogar seit Hunderten von Jahren aktiv ist.
Foto: ROV SuBastian / Schmidt Ocean Institute
Klimawandel als Auslöser – und Forschungschance
Neben den biologischen Proben sammelte das Team auch Daten zur Geologie und Ozeanografie der Region. Autonome Unterwasserfahrzeuge, sogenannte Glider, kamen zum Einsatz, um etwa die chemischen Eigenschaften des Wassers zu messen. Dabei stellten die Forschenden eine hohe biologische Aktivität fest – sowie einen deutlichen Schmelzwasserfluss vom George-VI-Schelfeis.
Dr. Sasha Montelli vom University College London betont die Bedeutung dieser Daten:
„Unsere Arbeit ist entscheidend, um den langfristigen Kontext dieser jüngsten Veränderungen zu liefern und unsere Fähigkeit zur Prognose zukünftiger Entwicklungen zu verbessern – Vorhersagen, die als Grundlage für politische Maßnahmen dienen können.“
Der Eisverlust in der Antarktis zählt zu den Hauptfaktoren für den Anstieg des Meeresspiegels. Dass sich das George-VI-Schelfeis zurückzieht, ist kein neues Phänomen. Erste Beobachtungen stammen bereits aus den 1940er-Jahren. Dennoch gilt die Region bislang als vergleichsweise stabil – noch. Martínez Arbizu warnt: „Es ist zu befürchten, dass das schützende Meereis immer weiter schwindet und Abbrüche wie der von A-84 häufiger werden.“
Einblicke in eine verborgene Welt
Die Expedition verdeutlicht, wie wenig wir über das Leben unter antarktischen Schelfeisen wissen. Zwar gab es bereits frühere Hinweise auf Lebewesen unter dem Eis, etwa vom British Antarctic Survey im Jahr 2021. Doch der Einsatz eines ferngesteuerten Fahrzeugs in dieser Größenordnung ist ein Novum.
Für Dr. Jyotika Virmani, Geschäftsführerin des Schmidt Ocean Institute, zeigt sich darin auch die Faszination der Meeresforschung: „Zufällige Entdeckungsmomente sind Teil der Faszination der Meeresforschung – sie ermöglichen es uns, als Erste die unberührte Schönheit unserer Welt zu erleben.“
Ein Beitrag von: