Urban-Gardening in Detroit: Buntbarsche statt Bagger
Im nordamerikanischen „Rostgürtel“ um Detroit veröden ganze Regionen. Industriebrachen, leer stehende Fabrikgebäude und verwahrloste Straßen bestimmen das Stadtbild – Folgen einer verschwundenen Schwerindustrie. Doch zwischen den Ruinen wächst eine neue Kultur heran
Die Fensterscheiben der Wolkenkratzer sind blind, manche fehlen, die Eingänge sind vernagelt. Um 12.40 Uhr ist die Uhr im ehemaligen Bankgebäude an der Ecke Lafayette Blvd./Griswald Street hier im Süden Detroits stehen geblieben, seit Langem hängt das Schild „Zu verkaufen“ an dem Gebäude. Hier ging es seit Jahrzehnten nur bergab – Detroit hat mit dem Sterben der Automobilindustrie an die 900 000 Einwohner verloren, die Hälfte seiner Bevölkerung.
„Geld – das ist es, was ich will“, sang 1960 Barret Strong im ersten Hit des später berühmt gewordenen Detroiter Motown-Labels. Das war die Zeit, als noch chromblitzende Straßenkreuzer von den Bändern der Automobilfirmen Ford, General Motors und Chrysler rollten.
Detroit war einmal eine blühende Metropole
Die Stadt mit ihrer Schiffsanbindung an die Großen Seen war eine blühende Metropole und die Industrie beschäftigte Tausende von Arbeitern. Heute ist das ein lange vergessener Traum.
Und es wird nicht besser, wenn man sich in die Vororte aufmacht. Auf dem Weg nach Nordosten, hinaus zum „Eastern Market“ rollt man durch Straßen, in denen die Holzhäuser langsam in sich zusammenfallen, vorbei an leer stehenden Hotels und Geschäften mit ausgebrannten Fensterhöhlen, immer mal wieder ein altes Fabrikgelände mit seinem roten, verdreckten Backsteingemäuer. Nichts, wo man freiwillig aussteigen würde.
Kein Zufall, dass Detroit mit seinen Untergangsstimmung verbreitenden Ruinen zu einem begehrten Drehplatz für Filmcrews geworden ist.
Aber die Hoffnung sprießt und grünt – etwa an der Mt. Elliott Street, einer ruhigen Nebenstraße, in der wenigstens ein Teil der Häuser dem Niedergang getrotzt hat.
Dort steht Shane Bernando an einem Asparagus-Feld, das sich gut 100 m lang und 10 m breit vor einer alten Fabrikmauer entlangzieht. Sorgfältig kontrolliert der 38-Jährige die feinblättrigen Pflanzen. Er arbeitet für „Earthworks“, ein „Urban-Gardening“-Projekt des nahen Kapuzinerklosters.
Urban-Gardening-Projekte verfolgen auch soziale Ziele
Die Macher der Urban-Gardening-Projekte lassen nicht nur grüne Felder in alten Industriebrachen entstehen, sie verfolgen auch ein vielseitiges soziales Programm. „Wir beliefern mit den Produkten aus unseren sieben Gärten die Suppenküchen für Arme“, erklärt Bernando. Eine ist gleich um die Ecke. Zweimal am Tag sieht man die Menschen vor der Küche Schlange stehen. Die anderen beiden sind einige Straßen weiter. Insgesamt werden so gut 2000 Mahlzeiten täglich ausgegeben.
Doch es geht noch um mehr als nur das Essen: um eine sinnvolle Beschäftigung, um eine Kultur der besseren Ernährung, um den Aufbau von Nachbarschaften, um dem sozialen Zerbröseln der Stadt etwas entgegenzusetzen. Im Programm sind auch Koch-Shows und Betreuungsprogramme für Kinder.
Ein paar Straßenzüge entfernt in einem öden Viertel, das von einem sechsspurigen Highway durchschnitten wird und durchzogen ist von Kühlhäusern und Lagerhallen, steht Dan Carmody in einer der Hallen des Eastern Market.
Heute ist Markttag und wenigstens in einer der Hallen warten Obst und Gemüse auf ihre Käufer. Doch Dan Carmody träumt von mehr, von Markttagen, in denen auch die anderen Hallen voller Menschen sind, von kleinen Unternehmen, die in die Hallen einziehen, von neuen Geschäftskonzepten und einer florierenden Nachbarschafts-Ökonomie. Er drückt dem Besucher eine farbige Broschüre in die Hand, in der seine Ideen und Konzepte erläutert werden.
Carmody ist Stadtplaner und derzeit Präsident der städtischen „Eastern Market Corporation“. Für ihn sind die Hallen Zentrum eines kommunalen Aufbauprojektes. „Wir wollen das Viertel wiederbeleben, die Umgebung des Marktes sanieren und mit Gutscheinen den Aufbau eines gesunden städtischen Ernährungssystems fördern“, umreißt Carmody seine Pläne.
Der Marktplatz soll Umschlagplatz sein für die Früchte der kommunalen Gärten in Detroit, von denen es mittlerweile an die 1500 im Stadtgebiet geben soll, „so ganz genau“, erklärt Carmody, „weiß das niemand“.
Urban-Gardening: Mit „Grown in Detroit“ schlägt die Stadt zwei Fliegen mit einer Klappe
„Grown in Detroit“, lautet folgerichtig die Schrift auf einem Plakat, das über einen Verkaufstisch gespannt ist und an dem Paprika, Mangold, Tomaten und Sellerie angeboten werden.
Die Stadt unterstützt diese kommunalen Gärtner und schlägt so zwei Fliegen mit einer Klappe: Immer, wenn die Empfänger von Essensmarken (eine Sozialhilfemaßnahme für Arme in den USA) frische Lebensmittel auf dem Markt einkaufen, erhalten sie Bonusmarken in gleicher Höhe wie die Summe, die sie ausgegeben haben. Und damit kann man wieder andere regionale Produkte erstehen.
So sollen arme Familien ermuntert werden, sich gesund zu ernähren. Denn „viele ernähren sich praktisch aus der nächsten Tankstelle und mit Fast Food, die großen Lebensmittelketten haben sich aus den Verfallsgebieten der Stadt längst zurückgezogen“, beschreibt Carmody die Lage. Diese „Ernährungswüsten“ will er begrünen: „Langfristig geht es um die Veränderung der lokalen Ernährungskultur.“ Die kommunalen Gärtner liefern frisches Gemüse und Obst, so das Konzept, in kommunalen Küchen sollen Kochkurse und Ernährungsberatung abgehalten werden. 20 % der notwendigen Lebensmittel könnten in der Stadt selbst produziert werden, so eine Schätzung, was an die 4700 Arbeitsplätze mit sich brächte.
Szenenwechsel nach Milwaukee am großen Michigansee, fünf Fahrstunden von Detroit in nordwestlicher Richtung entfernt. Silbern glitzernd steht eine schwere Maschine vor dem Harley-Davidson-Museum der Stadt. Der Motorradhersteller steht für jene Firmen, die Arbeitsplätze in Milwaukee schaffen. Doch der Blick über die nahe Gleisanlage bleibt an einem leer stehenden Fabrikgebäude hängen, Unkraut wuchert über das Gelände.
Obwohl die 600 000-Einwohner-Stadt nicht so vom wirtschaftlichen Abstieg bedroht ist wie die Autostadt Detroit, nehmen auch hier Industriebrachen und soziale Probleme zu.
Und auch hier wird nach Lösungen gesucht. Über die Grenzen von Milwaukee bekannt wurde das Growing Power-Projekt, das der Farmer Will Allen 1998 ins Leben rief. Auch er wollte die Sozialstrukturen verbessern, indem er lokal Lebensmittel produzierte.
Doch Will Allen ist nicht nur ein Pionier der sozialen Aufforstung heruntergekommener Stadtviertel, er ist auch Pionier einer innovativen, urbanen Lebensmittelherstellung: des Aquaponic, einer Mischung aus Pflanzen- und Fischzucht.
Die große Halle in einem alten Industriegebäude im Bay View-Viertel ist ausgefüllt mit mehrstöckigen Holzgestellen: Unten befinden sich die Fisch-Bottiche, in denen die Barsche schwimmen. Darüber sind erdlose Pflanzenbeete zu sehen, erhellt von Tageslichtlampen. Hier wachsen grüner Salat, Sprossen, Brunnenkresse, Basilikum sowie Mangold – die Nährstoffe nehmen sie aus dem Wasser über die Wurzeln auf (siehe Kasten).
Wo früher Steinbrecher Lärm machten, werden heute Kopfsalat und Buntbarsche gezüchtet
Diese Anlage gilt weltweit als die fortschrittlichste ihrer Art. Hier wurde lange Jahre schwere Bergbau-Technik gefertigt, dann stand das Gebäude leer und drohte zu verfallen. Heute werden hier statt Steinbrecher und Bagger Buntbarsche und Kopfsalat gezüchtet, „Sweet Water Organics“ nennt sich die urbane Fisch- und Pflanzenfarm.
Nick Montezon ist gerade dabei, die Fische in einem Bottich zu füttern. „Respektiere den Barsch!“, ist auf einem schmalen Brett über dem Becken zu lesen. Nick ist 19 Jahre alt und arbeitet Teilzeit bei Sweet Water Organics, in Kürze will er sein eigenes Geschäft eröffnen. „Es funktioniert“, sagt er, „wir verkaufen unsere Salate und Fische an heimische Restaurants, auch wenn wir nicht billig sind.“ Sieben Dollar muss man für ein Pfund Salat hinlegen, zehn Dollar für vier Barsche aus der Farm. Doch die werden gerne genommen, seit im Michigansee der Bestand an Barschen aus ökologischen Gründen drastisch zurückgegangen ist. Serviert werden sie z. B. im „Coquette Cafe“ im Milwaukeer Vergnügungsviertel Third Ward, frittiert mit Pommes und einer safrangelben Tartarsoße, schwärmt Nick.
Milwaukee gilt mittlerweile als Mekka der Aquaponic-Kultur. Firmen wie „Sweet Water Organics“ arbeiten längst kommerziell. Als „Farm der Zukunft“ beschrieb die New York Times die Aquaponic-Technologie.
So wächst in Detroit und Milwaukee zwischen den Ruinen der einstigen Schwerindustrie eine neue, innovative, urbane und grüne Pflanzen- und Fischkultur heran.
Ein Beitrag von: