Verkehrswende 06.01.2022, 12:13 Uhr

Bahn-Verspätung: „Mobilitätswende ist nicht zu schaffen“

Die Bahn soll eine tragende Säule der Mobilitätswende sein. Doch das System ist marode. Experten sagen: Mit der derzeitigen Infrastruktur sind die Zukunftspläne nicht möglich. Und Geld ist bei weitem nicht das einzige Problem.

Bahn-Verspätungen haben deutlich zugenommen. Foto: Panthermedia.net/ Kzenon (YAYMicro)

Bahn-Verspätungen haben deutlich zugenommen.

Foto: Panthermedia.net/ Kzenon (YAYMicro)

Die Ampel will mehr Bahn. Darin herrscht Einigkeit bei SPD, Grünen und FDP. In der geplanten Verkehrswende soll die Schiene eine hochprominente Rolle spielen. Für viele überraschend ist das zuständige Verkehrsministerium nicht grün, sondern gelb: Die FDP hatte sich das Ressort gesichert, neuer Bundesverkehrsminister ist Volker Wissing. Der war im Wahlkampf eher als Verteidiger der Straße denn als Schienenfreund aufgetreten, hatte zum Beispiel ein Tempolimit abgelehnt und galt als Diesel-Unterstützer. Vor ihm liegt nun eine gewaltige Aufgabe. Die Ziele im Koalitionsvertrag sind groß – allerdings zum größten Teil nicht neu:

  • Die Idee vom “Deutschland-Takt” bleibt. Fernzüge sollen ab 2030 die größten Städte im Halbstundentakt verbinden.
  • Die Fahrgastzahlen bei der Bahn sollen sich bis 2030 verdoppeln.
  • Fernzüge sollen künftig in mehr Oberzentren halten.
  • Alte Strecken will man reaktivieren, insgesamt soll das Schienennetz erweitert werden.
  • 25 Prozent des Güterverkehrs soll über die Schiene laufen.
  • Besonders interessant: Der Staatskonzern Bahn soll keine Gewinne mehr machen müssen, sondern eher gemeinwohlorientiert handeln.
  • 86 Milliarden Euro sollen bis 2030 in ein sehr deutlich gesteigertes Ausbauprogramm investiert werden.

Das klingt nach Aufbruchsstimmung. Nur – wer jetzt Pendler ist, muss das Gefühl haben: Bei der Bahn steht die Ampel meist auf rot. Sind diese Ziele wirklich realistisch?

Bahn: Zahl der Verspätungen nimmt deutlich zu

Aktuell nimmt die Zahl der Verspätungen und Zugausfälle deutlich zu. 2021 gab es viel mehr verspätete Züge als im Jahr davor. Lediglich 75 Prozent der ICE- und IC-Züge kamen pünktlich am Ziel an – und pünktlich heißt nach Bahn-Maßstäben: Mit weniger als sechs Minuten Verspätung. Sechs Minuten können bei Verbindungen, in deren Verlauf Umstiege nötig sind, ziemlich entscheidend sein. Gründe für die schlechte Statistik im letzten Jahr sind zum Teil auch punktuelle Ereignisse wie die Flutkatastrophe in NRW und Rheinland-Pfalz und der Tarifstreit mit der Gewerkschaft GDL.

Daneben sind es aber strukturelle Ursachen, die die Bahn ausbremsen: marode Züge, ein marodes Schienennetz, veraltete Technik. Die Infrastruktur ist zum Teil Jahrzehnte alt, viele Weichen werden noch immer von Hand bedient, eine digitale Transformation ist seit Jahren überfällig. Lange Zeit hat es der Konzern verpasst, sich gründlich und regelmäßig zu warten: Die Ausgaben für Instandhaltung und Ausbau des Bahnverkehrs sind im Vergleich mit benachbarten Staaten gering. Im Jahr 2020 flossen pro Einwohner etwa 88 Euro in das Bahnnetz, immerhin ein bisschen mehr als in den Jahren davor. Wenn man die Ausgaben aber in Relation setzt, wirken sie mickrig. Luxemburg etwa hat 547 Euro pro Kopf in sein Schienennetz gesteckt, die Schweiz 440 Euro und Italien immerhin noch knapp 130 Euro.

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Die Knauserigkeit der vergangenen Jahre rächt sich

“Deutschland investiert pro Kopf tatsächlich weniger als viele Nachbarstaaten”, sagt Dirk Gunther Trost, Professor an der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften. Er verweist allerdings darauf, dass dabei auch die räumliche Ausdehnung und die topographischen Gegebenheiten eine Rolle spielen. “So haben topographisch anspruchsvolle Länder wie die Schweiz für ihre Instandhaltung und vor allem den Ausbau von Brücken und Tunnelbauwerken vergleichsweise hohe Investitionsmittel einzusetzen”, so Trost.

Und doch rächst sich Knauserigkeit in Deutschland. Wer im Alltag auf die Bahn angewiesen ist, merkt das. Nahezu jeden Tag. Bahnfahren kann wirklich zur Qual werden und wer es sich leisten kann, wird darüber nachdenken, vielleicht doch lieber mit dem Auto zu fahren –  um dann im Stau zu stecken, denn überall in Deutschland werden jetzt marode Autobahnen und Autobahnbrücken saniert. Ist die Infrastruktur hierzulande überhaupt noch tragfähig, um eine echte Verkehrswende, wie sie seit Jahren und spätestens seit dem letzten Bundestagswahlkampf postuliert wird, ermöglichen zu können?

„Eine Verkehrswende ist so nicht zu erreichen“

Mobilitätsexperte Trost ist sich sicher: “Mit der jetzigen Eisenbahninfrastruktur ist eine Verkehrswende nicht zu erreichen.” Das sehen auch viele andere Expertinnen und Experten so. Wie Volker Stölting, der Professor an der Technischen Hochschule Köln ist:

„Die aktuellen Ausgaben werden nicht reichen, um die Bahn zu einer Säule der Verkehrswende zu machen. Wir werden noch deutlich mehr Geld investieren müssen.”

Stölting lehrt an der Fakultät für Bauingenieurwesen und Umwelttechnik. Schienenverkehr und Öffentliche Verkehrssysteme sind seine Spezialgebiete. “Der Bund hat das Schienennetz in den letzten 20 Jahren sträflich vernachlässigt. Und die Bahn hat einige Fehlentscheidungen wie etwa den Börsengang getroffen, was dazu geführt hat, dass sich das Unternehmen teilweise kranksparen musste”, sagt er.

Autobahnen und Autobahnbrücken

Wobei Geld gar nicht das Hauptproblem sei. “Wir können einen adäquaten Ausbau der Schiene derzeit planerisch und baulich nicht umsetzen. Die Planungen dauern viel zu lang, auch weil das Planungsrecht bisweilen bremst. Zudem sind die Bauunternehmen derzeit sehr stark ausgelastet“, sagt Stölting.

Großprojekte bremsen Schiene aus

Das spüren auch Pendler. Zig Baustellen bremsen den Zugverkehr aus, Bahnhöfe sind nicht nutzbar, weil sie für neue Projekte wie etwa den RRX in NRW ausgebaut werden oder Gleise für neue ICE-Haltestellen ausgebaut werden müssen. Notwendige Maßnahmen, aber die Bauarbeiten verzögern sich stetig. „Gerade im Raum Köln und im Ruhrgebiet hat der Ausbau des RRX-Systems zur Folge, dass dort unglaublich viele Baustellen sind. Bei der Autobahn kann man eine Spur sperren und die anderen frei lassen. Das geht bei der Eisenbahn so nicht, weshalb zurzeit viele Züge extrem unpünktlich sind“, erklärt Volker Stölting.

Er blickt pessimistisch auf die Ziele der Bundesregierung: „Ich gehe nicht davon aus, dass wir das Projekt Deutschlandtakt bis 2030 umsetzen können. Das werden wir nicht schaffen.“ Sein Fazit klingt bitter: „Es reicht nicht, ein paar schöne publikumswirksame Schnellfahrstrecken zu bauen, sondern man hätte in den letzten Jahrzehnten viel mehr Geld in Bestandsstrecken investieren müssen, die man hätte ausbauen müssen. Also von Zweigleisigkeit auf Drei- oder Viergleisigkeit. Das hat man nicht gemacht und nun stehen wir beinahe vor einem Scherbenhaufen.“

Das sind die schnellsten Züge der Welt

Mehr Bestandsschutz, weniger Prestige-Projekte hätte viele Probleme, die die Bahn jetzt hat, verhindert, so Stölting:

„Sowas wie Stuttgart 21 darf einfach nicht mehr passieren. Dass Planfeststellungsverfahren so lange dauern, dass man am Ende sagen muss: Leute, was ihr damals beschlossen habt, ist jetzt obsolet geworden, jetzt können wir wieder von vorne beginnen. Mit den heutigen Techniken wäre man mit dem alten Kopfbahnhof genauso leistungsfähig gewesen.“

Lokführermangel verschärft das Problem

Ein weiteres Problem, dass die Zukunftsfähigkeit der Bahn einzuschränken droht: Es gibt einen massiven Mangel an Lokführern. Zahlen gibt es für das Jahr 2019: Laut der “Allianz pro Schiene” standen 100 offenen Stellen nur 25 als arbeitssuchend gemeldete Lokführer gegenüber. Die Quote sei schlechter als bei der Altenpflege, die oft als gravierendes Beispiel für Personalmangel herhalten muss.

Ein Grund mag sein: Je schlechter die Abläufe bei der Bahn funktionieren, desto mehr Stress haben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das wollen sich womöglich immer weniger Menschen antun. Vielleicht schreckt potentielle Bewerberinnen und Bewerber auch die Debatte um fahrerlose Züge ab, die seit Jahren geführt wird. Die Sorge: Lokführer werden in Zukunft nicht mehr gebraucht. Das ist allerdings eher unbegründet: Ohne Menschen im Führerstand wird es wohl keinen Bahnverkehr geben. Im Gegenteil: Der Personalbedarf der Bahn wird in den nächsten Jahren massiv steigen, auch Techniker und Ingenieure werden zunehmend gebraucht.

Bahn zerschlagen: Ist das die Lösung?

Ein Lösungsansatz, der schon seit den 1990er Jahren immer wieder diskutiert wird: Eine Zerschlagung des Staatskonzerns. Das soll die Bahn effizienter und das System transparenter machen. Noch vor den Bundestagswahlen 2020 hatte die Monopolkommission erneut angemahnt, dass Netz und Verkehrsunternehmen bei der Bahn zu eng miteinander verflochten sind Die Idee: Ein eigenständiger Betreiber ist nur für das Schienennetz zuständig, das er Verkehrsunternehmen (wie der Bahn selbst und ihren Mitbewerbern, vor allem im Regionalverkehr) anbietet. Eine hohe Auslastung und ein reibungsloses Funktionieren der Infrastruktur wäre oberstes Ziel dieses Betreibers.

Bei Gewerkschaften kommt die Idee nicht gut an. Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) etwa spricht sich klar gegen eine solche Neustrukturierung des Konzerns aus. Das komme einem “Stillstand bei der Verkehrswende“ gleich, sagte der stellvertretende EVG-Chef Martin Burkert im November. “Diese Zeit haben wir nicht. Die Politik muss jetzt die Schiene voranbringen und Geld in die Hand nehmen.”

Anders sieht das Verkehrssystemexperte Volker Stölting. Die Grundstruktur der Bahn sehe eine solche Trennung sowieso vor. “Die Bahn müsste das theoretisch ohnehin schon so leben, insofern wundere ich mich, dass darüber überhaupt diskutiert wird.“ Ein Argument von Kritikern sei, dass es durch eine Zerschlagung Wissensverlust gebe und das “Gebilde Bahn” zu kompliziert sei, um es auseinanderzudividieren. “Aber das stimmt nicht, denn die Menschen, die heute dort schon arbeiten, bleiben ja erhalten. DB Netz wäre nur nicht mehr Teil des Konzerns Deutsche Bahn“, so Stölting.  „Ich glaube, dass das der DB Netz und auch den anderen Gesellschaften, wie DB Fernverkehr oder DB Cargo, guttun würde. Wenn man das Netz vom Betrieb loslöst. Man wäre dann viel flexibler in den Möglichkeiten.“

Zudem sei es auch für den Steuerzahler deutlich transparenter, wenn die einzelnen Bereiche wirtschaftlich sauber getrennt wären. “Ich stehe auf dem Standpunkt: Die Infrastruktur wird vom Steuerzahler bezahlt. Mit diesen Mitteln muss effizient gehaushaltet werden und das Verkehrsnetz muss allen Nutzern zur Verfügung gestellt werden.” Für die Gesellschaft sei die Bahn nach wie vor von entscheidendem Nutzen, eine Verkehrswende ohne Schiene undenkbar.

„Das Grundprinzip Eisenbahn ist 150 Jahre alt. Es gibt kein nachhaltigeres Verkehrssystem, als die klassische Schiene“, so Stölting.

Fallbeispiel Bahnverspätung: Von Aachen nach Düsseldorf – in unter vier Stunden. Challenge accepted

Im Selbstversuch haben wir nachvollzogen, wie sich das Bahnfahren für Vielreisende anfühlt. Unser Fazit ist nicht Ergebnis einer empirischen Studie, aber beruht auf einer Menge Erfahrung – im wahrsten Sinne. Um es vorwegzunehmen: Von 20 stichprobenartigen Bahnfahrten in den vergangenen drei Monaten gab es keine einzige Fahrt, die nach Plan verlaufen wäre. Ein Fallbeispiel von vielen, das das Dilemma aufzeigt, in dem die Bahn aktuell steckt:

Wer viel Bahn fährt, bekommt mit der Zeit ein Gespür für die feine Ironie, die sich im Reisen auf Schienen oft subtil bemerkbar macht. Ausgangspunkt einer Zugfahrt im Oktober war eine Konferenz in Aachen, bei der es auch um die Mobilität der Zukunft ging. Sie ahnen es: Die Rückreise fühlte sich wenig nach Mobilität und viel nach Vergangenheit an.

Schon kleine Störungen im Betriebsablauf machen den Reiseplan kaputt

Aachen liegt im nordrheinwestfälischen Regierungsbezirk Köln. Innerhalb von 53 Minuten ist man mit einem Regionalexpress von Aachen in Köln. Bis Düsseldorf dauert es eine Stunde und 28 Minuten. Theoretisch. In der Praxis kann es auch dreimal so lang dauern, wenn alles schlecht läuft. Reinsetzen, fahren, ankommen: Es könnte so einfach sein – war es in diesem Fall aber nicht.

Wegen Bauarbeiten konnten die Regionalzüge nicht bis zum Ziel durchfahren, sodass ein Umsteigen am Bahnhof Köln-Süd notwendig war. Bahnreisen, in deren Verlauf Umstiege nötig sind, sind besonders riskant: Schon kleine Störungen im Betriebsablauf können zum Mobilitäts-Fiasko werden. Die besonders unangenehmen Bahnreisen beginnen oft mit einer verspäteten Ausfahrt am Ausgangsbahnhof. Fahren die Züge bereits dort fünf Minuten später als geplant los, funktioniert der persönliche Reiseplan nicht mehr. Gerade, wenn man mit Regionalzügen unterwegs ist: Dann muss der Zug aufgrund fehlender Freigabe zur Weiterfahrt auf der Strecke stehen bleiben, weil ICs und ICEs Vorrang haben.

Schon die Fahrt von Aachen nach Köln verzögerte sich deutlich. Und wegen besagter Bauarbeiten kam es auch bei den S-Bahnen zu massiven Verspätungen und Ausfällen. Statt der üblichen 17 Minuten, die ein Zug von Köln-Süd bis Köln Hbf braucht, dauerte es inklusive Wartezeiten eine Stunde für diesen kurzen Streckenabschnitt. In Köln fielen dann fast alle Züge aus – fatal, denn der Bahnhof ist ein Verkehrsknotenpunkt. Für die Strecke von Aachen bis Düsseldorf brauchten die Reisenden am Ende knapp dreieinhalb Stunden.

Mobilitätsexperte Dirk Trost: “Bedenken sollte man, dass eine Instandhaltung und ein Ausbau ‘unter dem rollenden Rad’ zunächst auch immer gravierende Einschränkungen bei Kapazität, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit zur Folge hat. Das kennt jeder Verkehrsteilnehmer von den zahlreichen Autobahnbaustellen.”

Massive Verspätungen durch Baustellen werden Reisende wohl noch jahrelang beschäftigen. “Die Planungs- und Realisierungszeiten sind viel zu lang. Selbst wenn ausreichend Investionsmittel zur Verfügung stehen, werden die vorhandenen Baukapazitäten kaum ausreichen”, so Trost.

Ein Beitrag von:

  • Peter Sieben

    Peter Sieben schreibt über Forschung, Politik und Karrierethemen. Nach einem Volontariat bei der Funke Mediengruppe war er mehrere Jahre als Redakteur und Politik-Reporter in verschiedenen Ressorts von Tageszeitungen und Online-Medien unterwegs.

  • Sarah Janczura

    Sarah Janczura

    Sarah Janczura schreibt zu den Themen Technik, Forschung und Karriere. Nach einem Volontariat mit dem Schwerpunkt Social Media war sie als Online-Redakteurin in einer Digitalagentur unterwegs. Aktuell arbeitet sie als Referentin für Presse und Kommunikation beim VDI e.V.

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