Bahnkreuz Essen: Noch drei weitere Stollen unter den Gleisen
Sie haben sich wohl kaum gedacht, dass ihre handgeschaufelten Flöze 180 Jahre später das halbe Ruhrgebiet vom Fernverkehr der Bahn abkoppeln würden. Nur 16 Meter unter den Gleisen des Essener Hauptbahnhofes liegende Hohlräume müssen erst verfüllt werden, bis die Züge wieder vollzählig rollen können.
Als in der Frühzeit des Bergbaus die Bergleute im Ruhrgebiet Kohle aus der Erde holten, standen keine Kartographen daneben.In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der Abbau von Steinkohle im Essener Süden denkbar einfach. Es genügten Spitzhacke und Schaufel, denn Flöze, also die Kohle führenden Schichten, reichten bis zur Erdoberfläche. Im Laufe der Zeit reichte der Ertrag nicht mehr. Die Grubenbetreiber ließen Schächte anlegen, von denen aus Stollen in den Berg getrieben wurden, bis ein Flöz erreicht war.
In den ersten Jahren war der Abbau geradezu zügellos. Wenn ein Flöz ausgebeutet war, wurde ein neuer Stollen gegraben, der alte sich selbst überlassen. Nach einigen Jahren wusste niemand mehr, wo sich die Hohlräume befanden. Erst wenn sie einstürzen, was sich bis zur Erdoberfläche bemerkbar machen kann, herrscht Klarheit.
In Essen ist das Problem besonders groß. Weil die Kohle dort teilweise in einer Tiefe von wenigen Dutzend Metern lag, befinden sich viele Hohlräume ziemlich dicht unter der Erdoberfläche. Diejenigen, die ab 1840 gegraben wurden, sind unbekannt. Erst dann trat ein Berggesetz in Kraft, das unter anderem eines regelte: Vermessungstechniker, im Bergbau Markscheider genannt, wurden verpflichtet, jeden Stollen und jedes ausgekohlte Flöz zu kartieren. Die Stollen in Essen wurden ab 1870 systematisch in Karten eingetragen.
Dass erst jetzt ein Stollen dicht unter den Gleisen zwischen dem Essener Hauptbahnhof und dem Haltepunkt Essen-West entdeckt wurde, liegt womöglich daran, dass er in der Frühzeit des Bergbaus entstanden ist, als es die Kartierungspflicht noch nicht gab. Denkbar ist aber auch, dass er nach dem Zweiten Weltkrieg illegal erweitert wurde, um Kohle zu gewinnen. Entdeckt wurde der einsturzgefährdete Hohlraum bei Gründungsarbeiten für ein neues Bahn-Gebäude.
Das AEG-Hochhaus gleich neben dem Hauptbahnhof ist längst abgerissen. Bevor jedoch die Arbeiten für die neue Konzernzentrale der DB-Logistiktochter Schenker beginnen sollte, wurde erst der Untergrund untersucht. Und wie längst bekannt wurden die Ingenieure fündig.
Jetzt herrscht Bahnchaos im Ruhrgebiet – und das wohl noch wochenlang. Denn niemand weiß wirklich, wieviele Hohlräume unter den Gleisen des wichtigsten Bahnknotenpunktes der Bahn im Ruhrgebiet liegen. Zwar wurde erste aufgefundene Stollen in nur 16 Metern mit 200 Kubikmetern Beton verfüllt. Doch inzwischen wurden weitere Stollen und Hohlräume gefunden.
Drei neue Flöze stoppen bis auf weiteres den Fernverkehr
Außer dem jetzt verfüllten Flöz, das später den Namen „Sonnenschein“ bekam, gibt es im Umfeld des Hauptbahnhofes Essen noch drei weitere Flöze, die korrekt kariert sind: „Wasserfall“ sowie „Dickebank I und II“. Außerdem fanden die Bergtechniker oberhalb von „Sonnenschein“ aufgelockerte Bereiche, die nachgeben könnten.
Bis alle Gefahren ausgeschlossen sind, ist die Hauptfernverkehrsstrecke über Essen gesperrt. Die ICEs von Köln und Düsseldorf in Richtung Berlin und Norddeutschland werden auf Nebenverkehrsstrecken über Gelsenkirchen und Oberhausen umgeleitet. Die Nahverkehrszüge, die weiterhin Essen anfahren dürfen, müssen Schrittgeschwindigkeit fahren, um die Erschütterungen zu minimieren. Die Bahn teilte inzwischen mit, dass die Arbeit voraussichtlich bis Ende Dezember dauern werden.
Längst fragen sich die Menschen im Ruhrgebiet allerdings, ob Essen nur der Anfang ist. Experten schätzen, dass im Ruhrgebiet rund 20.000 Stollen vom Einsturz bedroht sind. Die Ruhrkohle AG erhält rund 35.000 Schadensmeldungen – pro Jahr!
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