Die Upperclass entdeckt den Linienbus
Vorbei scheinen die Zeiten zu sein, in denen überwiegend Ältere, Kinder und sozial Schwache den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) nutzen. Vor allem in Europa gibt es laut der Gesellschaft für internationale Marktforschung und Beratung (Sigma) eine schichtenübergreifend erhöhte Bereitschaft, Busse und Bahnen zu nutzen, so die aktuellen Studie „Mobilität und soziale Milieus in Europa“.
In Studien wird davon ausgegangen, dass in 40 Jahren zwei Drittel der Menschen in Metropolen leben werden. Deshalb erhöht sich stetig die Bedeutung des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) sowie seine Weiterentwicklung, um den Mobilitätsbedarf sicherzustellen.
Die Gesellschaft für internationale Marktforschung und Beratung (Sigma) präsentierte auf einem ÖPNV-Symposium, das Mercedes-Benz am 22. November in Mannheim veranstaltete, eine Studie über „Mobilität und soziale Milieus in Europa“. In der Untersuchung, die von Daimler in Auftrag gegeben wurde, kommen die Wissenschaftler u. a. zum Schluss, dass die Zeiten vorbei zu sein scheinen, in denen sich überwiegend Ältere, Kinder und sozial Schwache mit den Fahrzeugen des ÖPNV bewegten. Es gibt vor allem in Europa eine schichtenübergreifend erhöhte Bereitschaft, Busse und Bahnen zu nutzen. Eine weitaus geringere Rolle spiele der ÖPNV dagegen in den USA, Russland und China.
Sigma untersucht regelmäßig 37 unterschiedliche Formen des Mobilitätsverhaltens, darunter auch die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Und zwar in ihren unterschiedlichen Intensitätsstufen – von der täglichen Nutzung bis hin zur völligen Verweigerung.
Bei der Untersuchung der Milieus wurde neben den klassischen Unterscheidungskategorien Geschlecht, Alter, Bildung und Einkommen auch auf Aspekte wie Werteorientierung, Lebensauffassung und Lebensstil Bezug genommen. Dazu gehören Fragen des Geschmacks oder der Art der Mediennutzung sowie Einstellungen zu Klimaschutz und Nachhaltigkeit.
Die Nutzung von Bussen und Bahnen setze sich in immer mehr Milieus durch, sagte Sigma-Geschäftsführer Carsten Ascheberg auf dem ÖPNV-Symposium. „Der ÖPNV in den größten europäischen Märkten erreicht nicht nur Zielgruppen im Down-Market sowie Ältere und Kinder. Er wird überdurchschnittlich auch von Angehörigen moderner Up-Market-Milieus genutzt“, sagte Ascheberg. Unter Down- und Up-Market-Milieus versteht der Marktforscher untere bzw. höhere soziale Milieus, unter denen es aber noch einmal bedeutende Unterschiede gebe, auch was die Einstellung zum öffentlichen Nahverkehr anbelangt.
Für den ÖPNV verloren seien nur Teilgruppen des Up-Market-Milieus, etwa das gehoben konservative Segment („Old Money“) sowie die der Aufsteiger („Social Climber Segments“). Letzteres sei die Welt von „New Money“ und derer, die es anstreben zu besitzen, so Ascheberg. Im Mittelpunkt der Werteorientierung stünden Status, Prestige und Luxuskonsum. Ein aktueller Trend in diesem Milieu sei die Neigung, sich sozial und kulturell nach unten abzuschotten. Ascheberg: „Mobilitätsangebote des ÖPNV lösen in dieser Zielgruppe gemeinhin wenig Begeisterung aus.“
Für den ÖPNV von umso größerer Bedeutung im Bereich des Up-Market-Milieus sei das „Upper Liberal Segment“, das ca. 10 % der Bevölkerung ausmache. Die „Upper Liberals“ seien ein kosmopolitisch orientiertes Elitemilieu, erklärt der Marktforscher. „Häufig mit höheren Bildungsabschlüssen versehen, beanspruchen sie eine anspruchsvolle Berufskarriere – und zwar beide Geschlechter.“ Wichtig sei ihnen darüber hinaus Kunst und Kultur, Lebensstil-Toleranz und ein hoher Lebensstandard.
Eine überdurchschnittliche Nutzung des ÖPNV konstatiert die Studie auch bei einer postmodernen Lifestyle-Avantgarde. Zudem zeichne sich vor allem in Deutschland eine verstärkte Innovationsfreudigkeit ab. Die große Gruppe derer, die sich für alles Neue interessiert und zunehmend umweltbewusst lebt, Sigma nennt sie „Progressive Mainstream“, zeige sich sehr offen für die Nutzung von Bussen und Bahnen.
Im europäischen Ländervergleich gäbe es bei der Akzeptanz des ÖPNV nur geringe Unterschiede. Wohl in Frankreich, insbesondere im Großraum Paris und in Bordeaux, verzeichne die Studie eine auffällige Abweichung. Dort nutze ein großer Teil des gehoben konservativen Segments den öffentlichen Nahverkehr, unter anderem weil sich dort die Verkehrsbetriebe auch den Bedürfnissen dieser Zielgruppe annäherten.
Europaweit kennzeichnend für die Art der Nutzung des ÖPNV bei den gehobenen Schichten sei keineswegs die Entscheidung gegen den Pkw, sondern ein Trend hin zum „Smart-Mobility-Mix“. „Pkw und ÖPNV werden in den meisten Zielgruppen nicht als einander ausschließende Transportmittel verstanden“, so Ascheberg. Im Rahmen der Sensorforschung zur Ermittlung von Zukunftspotenzialen kommt Sigma zu dem Ergebnis, dass immerhin die Hälfte der befragten Europäer Bereitschaft zeigten umweltbewusst zu leben, etwa im Haushalt weniger Ressourcen zu verbrauchen, aber auch den Pkw nicht mehr in gewohnter Häufigkeit zu benutzen, um in verstärktem Maße Busse und Bahnen zu frequentieren, gegebenenfalls auch auf das Fahrrad umzusatteln.
LARS WALLERANG/WOP
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