Zugverkehr 29.01.2010, 18:32 Uhr

Es fährt ein Zug … nach nirgendwo

Langjährige Wartungsmängel bei ICE- und S-Bahn-Zügen rächen sich nun. Die politisch gewollte Privatisierung hat nicht nur Gewinnerwartungen beflügelt, sie hat auch einen Konstruktionsfehler: Es fehlt eine unabhängige Überwachung der Bahnfahrzeuge. VDI nachrichten, Düsseldorf, 29. 1. 10, pek

Sonntag, 14.53 Uhr, Abfahrtszeit. ICE 941, eigentlich von Köln nach Berlin, fährt heute ab Düsseldorf. In der Doppelzugeinheit irren im fast leeren Wagen 22 drei Fahrgäste umher, die Wagen 33 suchen. „Der ist hinten, Sie müssen aussteigen, an den Loks vorbei und wieder einsteigen“, empfehlen Mitreisende. Sie haben vorher am Schalter gebucht, denn die Online-Platzreservierung streikte.

Ein Mann mit grauem DB-Rucksack, wohl der Lokführer, hetzt auf dem Bahnsteig zum Steuerwagen nach vorne. Die blaue Anzeigetafel zeigt: „Die Abfahrt verzögert sich um wenige Minuten.“ Abfahrt 14.58 Uhr. 20 min Verspätung in Hannover. Die Fahrgäste haben inzwischen erfahren, dass der ICE heute nur bis Berlin-Spandau fährt. Chaostage bei der Deutschen Bahn (DB).

IT-Spezialistin Amarie (Bahncard 100 1. Klasse) sitzt täglich einige Stunden in ICE und IC. Aus Langeweile twittert sie. Auf dem Weg nach Halle sprach die Zugbegleiterin in reinstem Sächsisch: „Unsere Weiterfahrt verzögert sich um ein paar Minuten.“ Und Amarie twitterte: „Alles wie immer.“ Vor ein paar Tagen erlebte sie eine Vollbremsung im ICE. Eine Triebkopfstörung wurde durchgesagt, dann rollte der Zug langsam mit Zwischenstopps nach Hannover.

Wer am 15. Januar unterwegs war, musste glauben, dass die Deutsche Bahn gerade kollabiert ist. In Hannover kamen abends binnen 90 min von 17 ICE- und Intercity-Zügen nur drei pünktlich an. 5 min bis 40 min Verspätung durch „Verzögerungen im Betriebsablauf“, Weichenstörung, Oberleitungsstörung, hohe Streckenauslastung. Kurz zuvor hatten drei Reisende getwittert, dass ihr ICE bei Siegburg stehe und brenne.

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Auch andernorts ging bei Temperaturen am Gefrierpunkt nicht viel. Verspätungen bis zu zwei Stunden, Zugausfälle, Notarzteinsatz am Gleis – die neue Umschreibung von Suizid -, Störungen am Triebfahrzeug und Warten auf Anschlussfahrgäste nervten Bahnfahrer. Am Wochenende vorher, bei echtem Winterwetter und Schnee, kam der Zugverkehr ins Stocken oder endete schon mal vor einer Schneewehe in Brandenburg. Am vergangenen Sonntag wurden in sieben Stunden mindestens neun „Störungen am Triebfahrzeug“ und ein Ausfall bei ICE-Zügen gemeldet, Verspätung 10 min bis 70 min.

Hat sich die Deutsche Bahn bei der Vorbereitung auf den Börsengang kaputtgespart? Die Indizien sind erdrückend und nicht neu. Schon das ICE-Unglück in Eschede, bei dem 101 Menschen starben, war durch einen gebrochenen Radreifen entstanden. Die Prüfung mit Hammerschlag und Taschenlampe, die die DB laut „Schwarzbuch Deutsche Bahn“ praktizierte, schien nicht geeignet für einen Hochgeschwindigkeitszug. Autoren des „Schwarzbuch Deutsche Bahn“ sind die ZDF-Journalisten Christian Esser und Astrid Randerath.

Der Radsatzwellenbruch in Köln am 9. Juli 2008 war für Vatroslav Grubisic, den ehemaligen Vizechef des Fraunhofer-Instituts für Betriebsfestigkeit, keine Überraschung: „Die Bahn hat nichts aus Eschede gelernt.“ Der Radsatz war rund 9 Mio. km gelaufen, berichtete die Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung. Zwar wurden verbesserte Ultraschallprüfverfahren eingeführt, doch wurden wohl seit 2003, wie die Schwarzbuch-Autoren herausfanden, die Prüfintervalle verlängert. Damit sei die Neuanschaffung von fünf ICE-Zügen vermieden worden.

Die Bahn beteuert, ihre ICE alle 240 000 km kontrolliert zu haben. Zu selten, nicht nur wegen der als heikel erkannten Radsätze aus hochfestem Stahl. Ein nur ein Jahr alter Radsatz war 2002 bereits unter einem Diesel-ICE zu Bruch gegangen. Und auch bei der Berliner S-Bahn brachten solche Radsätze, aber auch mangelnde Wartung und schadhafte Bremszylinder den Verkehr fast zum Stillstand.

Das Schwarzbuch zitiert Mitarbeiter eines ICE-Betriebswerks, die schon 2006 für verkürzte Wartungsintervalle eintraten und sich über Zeit- und Personalmangel und aus der EDV verschwundene Arbeitsaufträge beklagen: „Die Laufleistung zwischen den Wartungsintervallen wurde deutlich erhöht, es gibt keine Reserve an Zügen und Mitarbeitern. Fällt jetzt ein Zug defekt aus, geht das Improvisieren los.“ Und auch die bis auf die Kennrille abgefahrenen Radsätze, Kostenpunkt mindestens 5000 €, bleiben schon mal länger in den Drehgestellen. Zitat aus dem Schwarzbuch: „Geht noch eine Runde gut.“

Alles falsch, sagt die Deutsche Bahn. „Der immer wieder geäußerte Vorwurf, die DB spare an der Wartung ihrer Züge, trifft nicht zu und stellt die ausgezeichnete Arbeit vieler Tausend DB-Mitarbeiter in unseren Instandhaltungswerken zu Unrecht infrage“, verteidigt sich Ulrich Homburg, Vorstand Personenverkehr der DB. Die Pressemitteilung versucht zu beschwichtigen: „DB-Fahrzeuge im Fernverkehr weisen hohe Sicherheitsreserven auf. Insbesondere die Bremssysteme sind so konstruiert, dass sie über mehr Bremsvermögen verfügen, als zur Einhaltung des Anhalteweges mindestens erforderlich ist. Außerdem ist die Geschwindigkeit der Züge immer den aktuell vorhandenen Bremskräften angepasst.“ Das stimmt, sagt ein ICE-Lokführer, der nicht namentlich genannt werden möchte. Er bestätigt, dass teils defekte Bremsen, über die auch das Fernsehmagazin Kontraste berichtete, nicht ungewöhnlich sind. „Hört sich schlimmer an, als es ist“, sagt er. Der Zug bremst dann auf Hochgeschwindigkeitsstrecken eben früher.

Auf Strecken mit Signalen begrenzt der Bremsrechner das Tempo, was Verspätungen nach sich zieht. Ärgerlicher seien die häufig ausgefallenen Antriebe. „Viele Züge fahren nur mit einem Viertel der Antriebsleistung“, sagt der Lokführer. Deshalb werden manchmal ICE-Züge auf kurvige Strecken neben der Hochgeschwindigkeitsstrecke geleitet und brauchen deutlich länger. Zuletzt fuhr er einen ICE der Baureihe 401: Bei einer der

Loks arbeiteten nur zwei von vier Fahrmotoren, bei der zweiten Lok fiel unterwegs ebenfalls ein Drehgestell aus. Fahren mit halber Kraft. Aber auch das Kuppeln und Entkuppeln von Flügelzügen klappt manchmal nicht, weil die Kontakte verschmutzt sind. Auch wegen ungepflegter Bugklappenmimik, mit der deshalb, aerodynamisch ungünstig, offen gefahren wird.

Ein Eisenbahnkonstrukteur, der anonym bleiben will, kann sich die Mängel gut erklären. „Früher gab es Fristarbeiten nach Zeit oder Laufleistung. Heute wird die gleitende Instandhaltung im Expressverfahren durchgeführt. Für eine korrekte Wartung ist nachts die Zeit zu knapp“, sagt der Ingenieur. Deshalb würde nur das Nötigste repariert.

Staub in den ICE-Triebköpfen habe für Brände gesorgt. Durch mangelnde Wartung würde sich der Betriebszustand laufend verschlechtern. Die DB kontert, dass sie seit 2008 „schrittweise 150 neue Mitarbeiter“ eingestellt habe. Wie viele zuvor abgebaut wurden, sagt sie nicht.

Das Eisenbahnbundesamt (EBA) verweist auf 15 000 Stichproben, die bei Eisenbahnfahrzeugen, Gleisen und Anlagen jährlich gemacht werden, betont aber auch, dass die Eisenbahnunternehmen laut Gesetz selbst für die Sicherheit verantwortlich sind. Alle Fahrzeuge müssen nach sechs bis acht Jahren hauptuntersucht werden. Was und wie geprüft wird, legt das Bahnunternehmen selbst fest. So steht es in der Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung. Es gibt keine unabhängige Sicherheitsprüfung für Eisenbahnfahrzeuge.

Während die Deutsche Bahn von „extremer Witterung“ spricht, obwohl nur etwas Schnee gefallen ist und wenige Minusgrade herrschten, entgleisen drei Güterzüge aus ungeklärten Gründen. Bei der Berliner S-Bahn herrscht seit Monaten Chaos. Das EBA weist der betriebsführenden DB gefälschte Prüfprotokolle nach. Die Hersteller sind Schuld, ist nun die allgemeine Sprachregelung der Deutschen Bahn: „Die derzeitigen Witterungsverhältnisse führen bei immer mehr Zügen der S-Bahn Berlin zu konstruktionsbedingten Antriebsstörungen. Durch Flugschnee und Kondenswasser fallen derzeit 100 Viertelzüge der Baureihe 481 mit defekten Fahrmotoren aus.“ Konstruktionsbedingt? Die Züge sind 17 Jahre alt und Schneefall ist eigentlich normal in Berlin.

Seit dem 18. Januar werden alle ICE-Züge in den Werkstätten intensiv überprüft und repariert. Mit den beschuldigten Herstellern hat die Bahn, sagen diese, nicht gesprochen.

Die Zugchefs ertragen verkürzte ICE-Züge, unbrauchbare Platzkarten und Stehplätze, die bei Bremsungen Fahrgäste durcheinanderwirbeln, unterschiedlich. In Frankfurt-Flughafen beorderte einer die Bundespolizei, um den überfüllten Zug von ein paar Reisenden zu befreien. Woanders tönte es lakonisch aus ICE-Lautsprechern: „Ich hätte mir auch einen anderen Zug gewünscht. Machen wir das Beste draus.“

FRIEDHELM WEIDELICH

Ein Beitrag von:

  • Friedhelm Weidelich

    Technikjournalist Friedhelm Weidelich schreibt seit vielen Jahren über Verkehrsinfrastruktur, Eisenbahnen und Fahrzeugbau für verschiedene überregionale Zeitungen, Online-Medien und Fachmagazine.

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