So sicher ist das Fahren mit der Bahn wirklich
Fatale Entgleisungen wie in Garmisch-Partenkirchen passieren extrem selten. Doch das Schienennetz ist überaltert. Wie sicher ist die Bahn? Und ist sie der Verkehrswende überhaupt gewachsen?
Fünf Menschen starben bei dem Zugunglück in Burgrain bei Garmisch-Partenkirchen, rund 40 weitere wurden verletzt, einige von ihnen schwer. Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft München II gegen drei Mitarbeiter der Bahn wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung. Nähere Angaben gibt es dazu derzeit noch nicht, es gebe lediglich einen Anfangsverdacht, heißt es bei den Behörden. Unklar ist bislang auch, warum genau der Zug entgleist ist.
Die Kriminalpolizei in Weilheim und die Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung ermitteln derzeit. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann hatte in einem Interview gesagt, bei den Untersuchungen würden „technische Defekte“ in den Fokus genommen. Möglicherweise würden auch einzelne Schienen oder Schwellen sichergestellt. Mit einem schnellen Ergebnis der Ermittlungen ist nicht zu rechnen: Die Untersuchungen dürften Wochen oder sogar Monate dauern.
Überalterung von Bahn-Infrastruktur kein Sicherheitsrisiko
Und doch sind viele Pendler jetzt verunsichert. Ein nicht unerheblicher Teil der Gleise und Weichen haben den sogenannten „optimalen Ersatzzeitpunkt“ längst erreicht. Das heißt: Den Zeitpunkt, ab dem sie im Idealfall durch neues Material ersetzt werden sollten. Immerhin: Geplant ist die Erneuerung von 1.800 Kilometern Gleisen, 2.000 Weichen und 140 Eisenbahnbrücken. Mehr als 13 Milliarden Euro will die Bahn in die Projekte investieren. Aber ist die alte Infrastruktur noch sicher?
Experte Ullrich Martin kann beruhigen. Der Professor leitet das Institut für Eisenbahn- und Verkehrswesen an der Uni Stuttgart und stellt zunächst klar: „Generell halte ich nichts von Mutmaßungen zu Unfallursachen.“ Was aber klar sei: Eine Überalterung der Infrastruktur sorge zwar für Zugausfälle und Verspätungen, erhöhe aber grundsätzlich nicht die Wahrscheinlichkeit von Zugunfällen. „Gemäß dem gültigen Regelwerk findet eine regelmäßige Zustandsprüfung des Infrastrukturzustandes statt. Werden dabei Einschränkungen festgestellt, gibt es eine restriktiv vorgeschriebene Verfahrensweise zur Verhinderung von Unfällen. Gegebenenfalls auch unter Inkaufnahme betrieblicher Einschränkungen sowie verlängerter Reisezeiten“, so Martin.
Wie sicher ist das Fahren mit der Bahn?
Im Fall des Zugunglück bei Garmisch-Patenkirchen hatte auch die Tatsache, dass der Zug vom Triebwagen geschoben und nicht gezogen wurde, für Spekulationen gesorgt. Zum konkreten Fall könne er nichts sagen, so Ullrich Martin, aber: „Die Sicherheit wird bei geschobenen Zügen nicht beeinträchtigt. Vor einer offiziellen staatlichen Betriebserlaubnis ist ein entsprechender formaler Nachweis erforderlich. Andernfalls wäre keine Zulassung im öffentlichen Verkehr möglich.“ Geschobene Züge würden seit vielen Jahrzehnten nicht nur in Deutschland auch mit hohen Geschwindigkeiten verkehren. „Darüber hinaus gibt es für geschobene Züge zusätzliche Regeln in eher seltenen speziellen Situationen, zum Beispiel beim Beschleunigen in engen Weichenbereichen“, so der Experte.
Tatsächlich sind derart fatale Unfälle wie jetzt bei Garmisch-Patenkirchen in Deutschland sehr selten: Mehr als 23.000 Züge verkehren jeden Tag hierzulande, über drei Millionen Menschen sind täglich damit unterwegs. Bei Zugentgleisungen kam zwischen 2013 und 2020 kein Mensch ums Leben, insgesamt gab es bei Bahnunfällen zwischen 2001 und 2020 vier Tote.
Die Sicherheit von Fahrgästen bewertet Ullrich Martin als „uneingeschränkt sehr gut“. Die Wahrscheinlichkeit, zuhause oder im Straßenverkehr zu Schaden zu kommen, sei um Zehnerpotenzen höher. „Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass auf akribische Unfalluntersuchungen verzichtet werden sollte. Die Unfallvermeidung und speziell bei der Eisenbahn bereits die vorgelagerte Gefährdungsvermeidung sind und bleiben unabdingbarer Bestandteil der Sicherheitsarbeit.“
9-Euro-Ticket und Verkehrswende: Schafft die Bahn das überhaupt?
Das 9-Euro-Ticket hat die Bahn an ihre Belastungsgrenze gebracht: Völlig überfüllte Züge, Verspätungen und Ausfälle waren das Ergebnis am Pfingstwochenende. Doch auch nach der dreimonatigen Aktion sollen die Fahrgastzahlen steigen. Die Bundesregierung hat ehrgeizige (wenn auch nicht ausschließlich neue) Ziele für die Bahn. Im Koalitionsvertrag heißt es:
- Die Idee vom “Deutschland-Takt” bleibt. Fernzüge sollen ab 2030 die größten Städte im Halbstundentakt verbinden.
- Die Fahrgastzahlen bei der Bahn sollen sich bis 2030 verdoppeln.
- Fernzüge sollen künftig in mehr Oberzentren halten.
- Alte Strecken will man reaktivieren, insgesamt soll das Schienennetz erweitert werden.
- 25 Prozent des Güterverkehrs soll über die Schiene laufen.
- Der Staatskonzern Bahn soll keine Gewinne mehr machen müssen, sondern eher gemeinwohlorientiert handeln.
- 86 Milliarden Euro sollen bis 2030 in ein sehr deutlich gesteigertes Ausbauprogramm investiert werden.
Müsste die Bahn nicht grundlegend umgebaut und erneuert werden, wenn diese Ziele erreicht werden sollen? Bahnexperte Ullrich Martin hält nicht viel von der Forderung nach dem schnellen Infrastrukturausbau. „Das ist nicht zielführend. Jedem ist klar, dass diese Forderung zwar dem aktuellen Mainstream entspricht, aber eine Umsetzung, selbst wenn genügend Finanzmittel verfügbar wären, Jahrzehnte dauern würde.“
Es sei zu berücksichtigen, dass Deutschland nicht nur besonders dicht besiedelt, sondern im Hinblick auf die Siedlungsstruktur auch stark zersiedelt sei. „Im Zusammenhang mit weiteren wichtigen Zielstellungen wie zum Beispiel einer Reduzierung des Nutzflächenverbrauchs und der Flächenversiegelung, Erhaltung von Biotopen und so weiter, wird das Potenzial einer extensiven Infrastrukturerweiterung erheblich eingeschränkt“, so Martin.
Das sind die schnellsten Züge der Welt
Formal bestehe jedes Verkehrssystem aus den drei Komponenten „Infrastruktur“, „Fahrzeuge“ und „Betrieb/Betriebsorganisation“, die unmittelbar zusammenwirkten, sich gegenseitig beeinflussten und deshalb immer im Zusammenhang zu betrachten seien. „Dementsprechend wären aus meiner Sicht primär die Potenziale einer intensiveren Infrastrukturnutzung durch Abbau des Innovationsstaus, der bei der Eisenbahn in über 100 Jahren entstanden ist, im bestehenden System zu erschließen. Dadurch würde auch die Systemeffizienz deutlich ansteigen.“ Das heiße ausdrücklich nicht, dass nicht auch gezielte Infrastrukturausbauten und -ergänzungen engagiert vorangetrieben werden sollten.
„Verkehrswende nicht zu erreichen“
Das sehen auch andere Expertinnen und Experten so. “Mit der jetzigen Eisenbahninfrastruktur ist eine Verkehrswende nicht zu erreichen”, sagte etwa Dirk Gunther Trost, Professor an der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften, bereits Anfang des Jahres in einem Interview mit ingenieur.de.
Das sehen andere Expertinnen und Experten ähnlich. Wie Volker Stölting, der Professor an der Technischen Hochschule Köln ist:
„Die aktuellen Ausgaben werden nicht reichen, um die Bahn zu einer Säule der Verkehrswende zu machen. Wir werden noch deutlich mehr Geld investieren müssen.”
Und Volker Stölting, Professor an der TH Köln mit den Schwerpunkten Schienenverkehr und Öffentliche Verkehrssysteme, sagt: „Der Bund hat das Schienennetz in den letzten 20 Jahren sträflich vernachlässigt. Und die Bahn hat einige Fehlentscheidungen wie etwa den Börsengang getroffen, was dazu geführt hat, dass sich das Unternehmen teilweise kranksparen musste.”
Er gehe nicht davon aus, dass das Projekt Deutschlandtakt bis 2030 zu stemmen sei. Auch er sagt: Sinnvoller als ein rascher Umbau der Infrastruktur sei eine effizientere Nutzung des Bestehenden. „Es reicht nicht, ein paar schöne publikumswirksame Schnellfahrstrecken zu bauen, sondern man hätte in den letzten Jahrzehnten viel mehr Geld in Bestandsstrecken investieren müssen. Also von Zweigleisigkeit auf Drei- oder Viergleisigkeit. Das hat man nicht gemacht und nun stehen wir beinahe vor einem Scherbenhaufen.“
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