„Unser Verkehrssystem aus den 50er- und 60er-Jahren ist nicht globalisierbar“
Wenn der Automobilverband VDA und die Grünen-nahe Heinrich-Böll-Stiftung einen Kongress zur Zukunft der Automobilindustrie ausrichten, liegt Streit in der Luft. Gerade an der rasant wachsenden globalen Nachfrage nach Pkw scheiden sich die Geister.
Von Berufs wegen hat Dr. Eva Molnar das große Ganze im Blick. „Wenn unsere Programme zur Armutsbekämpfung greifen, dann werden bis 2030 weltweit 3 Mrd. Menschen in die Mittelklasse aufsteigen. Das sind 3 Mrd. potenzielle Autokäufer“, rechnete die Leiterin der Verkehrsabteilung der UN Economic Commission for Europe (UNECE) im Februar auf dem Fachkongress „Auto 3.0“ von Heinrich-Böll-Stiftung und VDA vor.
VDA-Präsident Matthias Wissmann und der grüne Vordenker Ralf Fücks, der die Böll-Stiftung seit 17 Jahren leitet, hörten Molnar gebannt zu. So sehr beide erfolgreiche Armutsbekämpfung wünschen, so unterschiedliche Gedanken lösten die Vorstellung von 3 Mrd. Autokäufern bei ihnen aus.
Wissmann sieht die deutsche Autoindustrie für die wachsende Nachfrage und die damit verbundenen Fragen gewappnet. „Deutschland ist eine der wenigen Regionen weltweit, wo es trotz starkem Anstieg des Verkehrs gelungen ist, die CO2-Emissionen zu senken“, sagte er. Und laut Kraftfahrtbundesamt würden die deutschen Hersteller in neun von zehn Fahrzeugsegmenten beim CO2-Ausstoß besser abschneiden als Importeure. Auch zum 95-g-Ziel der EU, also zur Reduktion der Emissionen aller in Europa verkauften Neuwagen auf durchschnittlich 95 g CO2/km bis 2020, bekenne sich seine Branche.
Fücks sieht diese Anstrengungen, hält sie aber für keineswegs ausreichend. Angesichts der erwarteten Verdopplung des globalen Fahrzeugbestands und der globalen Klima- und Ressourcenschutzziele müssten Materialaufwand, Energieverbrauch und Emissionen von Neufahrzeugen mindestens um Faktor 4 sinken.
„Wir stehen vor der Neuerfindung des Automobils von Karosserie bis Antrieb“, sagte er. Noch werde der Erfindergeist Zehntausender Ingenieure allerdings damit verschwendet, Autos alten Stils zu entwickeln. Damit meint er schwere, luxuriöse Limousinen, bei denen Effizienzgewinne durch höhere Motorleistung aufgefressen werden. Regelrecht angewidert referierte Fücks über „abgeschmackte, unzeitgemäße SUV, die als rollende Ungetüme durch unsere Städte drängen“.
Die Verkaufszahlen der gezähmten Geländewagen sprechen eine andere Sprache. Sie kommen bei den Kunden bestens an und lassen bei den Herstellern die Kassen klingeln. Wissmann verwies darauf, dass nur in Premiumfahrzeugen der Oberklasse neue Effizienz- und Sicherheitstechnologien eingeführt werden können, weil deren Käufer Aufpreise akzeptieren. Mit steigenden Stückzahlen lasse sich die Technik „Top-Down“ in untere Segmente übertragen.
Auch können laut Wissmann nur hochpreisige Fahrzeuge im Inland produziert werden. Im Volkswagen-Konzern sei der Golf das kleinste Auto, das in Deutschland gebaut werden kann. Bei kleineren Modellen seien die Margen dafür zu gering. Von Franzosen hört Wissmann oft, dass der größte Fehler von PSA und Renault deren Rückzug aus dem Premiumsegment gewesen sei, weil ihnen nun die Margen und der Top-Down-Ansatz fehlen.
Industriepolitisch führt laut Wissmann kein Weg an der Premiumstrategie vorbei. Deutschland sei gerade deshalb so stabil, weil es seinen Industrieanteil am Bruttoinlandsprodukt konstant gehalten habe. In Frankreich sei dieser von einem Fünftel auf 13 % gesunken, in der alten Industriehochburg Großbritannien liege er nur noch knapp über 10 %. Der Schlüssel zur Stärke der deutschen Industrie ist der Fahrzeugbau, der zudem zu den wichtigsten Kunden von Maschinen- und Anlagenbau oder Chemiebranche zählt.
Auch Fücks will, dass der Industriestandort Deutschland stark bleibt. Voraussetzung dafür sei aber der ökologische Umbau der Automobilbranche. „Unser Verkehrssystem aus den 50er- und 60er-Jahren ist nicht globalisierbar“, mahnte er. Die Autoindustrie sei nicht nur Schlüsselindustrie für Deutschland, sondern auch für die Zukunft des Planeten. Der steigende Mobilitätsbedarf drohe zum ökologischen Kollaps zu führen. Zum Beleg verwies er auf das wochenlang versmogte Peking.
Fücks forderte die Autohersteller auf, den „Premium“-Begriff neu zu füllen. „Für welche Autos werben Sie? Welche Bilder von Mobilität kreiert Ihr Marketing in der aufstrebenden Mittelschicht der Schwellenländer?“, fragte er. Welche Geschäftsmodelle verfolge die Industrie, um ihre Fahrzeuge in moderne intermodale Verkehrssysteme zu integrieren? Fücks Erfolgsformel: „Öko ist Premium“.
Doch sehen das auch Autokäufer so? Oder anders gefragt: Wie können Autokäufer überzeugt werden, künftig von feisten Limousinen und SUV auf leichte, technisch fortschrittliche Hybride und Stromer umzusteigen und dafür das gleiche Geld zu zahlen? – um diese Frage kreiste der ganze Kongress.
Denn es fehlt an Treibern für die zügige Transformation: Neue Ölfelder in Tiefsee und Arktis werden angezapft, Weltklimagipfel bleiben bei Absichtserklärungen und der Weg in die Elektromobilität wird der von der Industrie von Anfang an angekündigte Marathon. Solange die Reichweiten von Stromern weit hinter Benzinern und Dieseln zurückbleiben, werden nur sehr wohlhabende oder sehr grüne Kunden in die Niederemissionsmobilität einsteigen. Fücks hofft auf gesellschaftlichen Wertewandel, auf eine Jugend, die dem Auto-Fetisch entsagt und Carsharing-Angebote nutzt.
Molnar mit ihrem Blick aufs große Ganze sieht das anders: „In Indien werden Autos nach dem Kauf in Tempeln gesegnet“, berichtete sie. Für sie wäre schon viel gewonnen, wenn hierzulande kaum noch wahrgenommene Errungenschaften wie die regelmäßige technische Überwachung oder schwefel- und bleifreier Kraftstoff weltweit verfügbar wären, und Informations- und Kommunikationstechnologien die Effizienz der vorhandenen Verkehrssysteme steigern würden.
Als UN-Politikerin hat sie Geduld gelernt. „Sie können die Effizienzschraube nicht zu schnell anziehen, sonst verkaufen sie keine Autos mehr“, warnte Molnar. PETER TRECHOW
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