Vernetzte Elektromobilität auf dem Euref-Campus
Berlin/Brandenburg war geförderte Modellregion für Elektromobilität. Nun entsteht hier ein Schaufenster, das Bürgern und internationalen Gästen die Zukunft der Mobilität greifbar und erfahrbar machen soll. Im Alltag ist davon wenig zu sehen. Doch wer sich auf die Suche macht, wird fündig – und erkennt, dass es um weit mehr geht als die reine Mobilität.
Die Rufe der Zugvögel, die gerade am Himmel vorbeiziehen, bemerkt hier unten kaum jemand. Der Verkehr okkupiert alle Sinne. Eine schier endlose, dröhnende Blechkarawane schiebt sich durch die Schöneberger Hauptstraße.
Ein paar Straßen weiter ist der Lärm wie weggeblasen. Rund ums Gasometer, aus dem Günther Jauch sonntags abends sendet, wimmelte es vor Kurzem noch von Kleingewerbe. Nun sind die Baracken verwaist. Sie weichen einer Entwicklung, die am Fuß des alten Gasspeichers ihren Anfang genommen hat. Forscher aus Wissenschaft und Industrie bauen hier auf dem Euref-Campus unter Laborbedingungen die vernetzte Stadt der Zukunft.
Allgegenwärtige Spange ihrer Aktivitäten ist die Elektromobilität. Gleich an der Schranke zum 5,5 ha großen Campus rollt eine Frau auf einem lautlosen E-Roller vorbei. 100 m weiter tut sich zwischen modernisierten Fabrikgebäuden ein ungewöhnlicher Parkplatz auf. Von knapp einem Dutzend Ladesäulen verschiedener Formen und Farben schlängeln sich orangefarbene Kabel an Minis, Smarts und Citroën C1.
Berliner Euref-Campus: Elektromobilität dank Strom aus erneuerbaren Energien
Auf diversen Dächern rundum rotieren Kleinwindanlagen. Neben den Parkbuchten fängt eine gut 40 m2 große Photovoltaikanlage auf einem mächtigen Sockel die spärliche Herbstsonne ein. Im Sockel verbirgt sich eine gewaltige Blei-Säure-Batterie mit 150 kWh Kapazität.
Vernetzt sind Anlagen und Ladesäulen über ein sogenanntes „Micro Smart Grid“. Bald sollen weitere Windräder, stationäre Lithium-Ionen-Speicher, eine Elektrolyseanlage zur Herstellung von Wasserstoff und ein großer Tauchsieder hinzukommen, der mit überschüssigem Grünstrom Warmwasser erzeugen soll, das dann ins Wärmenetz fließen wird.
Der Campus ist eine der Keimzellen des Internationalen Schaufensters Elektromobilität Berlin-Brandenburg. „Es geht uns hier um viel mehr als die Erprobung neuer Antriebe“, stellt Frank Christian Hinrichs, einer der Verantwortlichen dieser Elektromobilitätsoase, klar. Anhand eines Quartierplans erläutert er die Pläne. Deutlich ist die Insellage zwischen S- und Fernbahngleisen zu erkennen. Neben dem Euref-Campus, auf dem im Jahr 2018 rund 5000 Menschen arbeiten sollen und wo momentan viele Rohbauten aus dem Boden wachsen, hat der Plan einen zweiten Pol: den Bahnhof Südkreuz. Ein Betonmoloch, der – abseits gelegen und kaum frequentiert – um mehrere Nummern zu groß wirkt.
Elektromobilität: Spezielle Fahrbahnen sollen Euref-Campus und Bahnhof verbinden
Geht es nach Hinrichs, wird sich das bald ändern. Auf seinem Plan verbindet ein Grünstreifen mit Fahrbahnen für Elektrofahrzeuge Campus und Bahnhof. „Wir haben hier die große Chance, Verkehre intelligent und lebenswert zu vernetzen“, erklärt er. Pendler aus dem Süden Berlins sollen am Südkreuz auf zwei- und vierrädrige Stromer umsteigen und so die letzten Kilometer zur Arbeit, ins Kino oder zum Sport zurücklegen. Es geht den Machern des Campus auch darum, Autobesitz verzichtbar zu machen.
Ein Mosaiksteinchen ihrer Vision wird gerade enthüllt, als Hinrichs die Pläne erläutert. Eine baskische Delegation präsentiert zwei Prototypen ihres Stadtautos „Hiriko“, ein tropfenförmiges Gefährt mit Vierradlenkung, das gemeinsam vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) und dem spanischen Innovationszentrums Denokinn entwickelt wurde und im Baskenland gebaut wird. Das 2,6 m lange Ei auf Rädern scheint vor allem aus Plastik und Glas zu bestehen. Ein- und Ausstieg ist eine nach oben aufklappende Glasfront. Firmenchef Jesús Echave führt vor, warum.
Auf Knopfdruck richtet sich die komplette Fahrgastzelle des Zweisitzers, in dem er sitzt, auf. Gleichzeitig schieben sich die Räder zusammen. „Zum Parken wird unser Auto 60 cm kürzer“, erklärt er. So passt es quer in Parklücken und der Ausstieg bleibt dank Fronttür gewährleistet. Und dank vier Radnabenmotoren kann sich das 95 km/h schnelle Stadtmobil auf der Stelle drehen und quer einparken.
Elektromobilität aus dem Baskenland: Stadtauto „Hiriko“
Die Deutsche Bahn liebäugelt mit dem Basken-Ei. Als Blickfang soll es das Schaufenster E-Mobilität in der Hauptstadt und die Carsharingflotte des Konzerns bereichern. „Das Hiriko-Auto könnte ein idealer Baustein in unserer Strategie sein“, sagt Andreas Knie, Bereichsleiter für intermodale Mobilitätsangebote und Geschäftsentwicklung der DB Fuhrpark GmbH. Er ist einer der Köpfe auf dem Campus und leitet hier das von ihm mitgegründete Innovationszentrum für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel (InnoZ).
„Raumexplosionsmaschinen“ sind Autos für ihn, die weit über ihren Nutzen hinaus Raum beanspruchen. Urbanisierung und verstopfte Verkehrsadern machen privaten Autobesitz in Städten zum Auslaufmodell. Hiriko, der sich klein macht, wenn er nicht gebraucht wird, und Mietern für Einwegfahrten dienen soll, ist für Knie ein konkreter Gegenentwurf: eine „Raumimplosionsmaschine“, die mehr Fahrauto als Stehauto sein soll.
Das perfekte Gefährt fürs Schaufenster, an dem hier in der Region über 250 Partner aus Industrie und Wissenschaft werkeln. Mit Fördermitteln von Bund und Ländern, die erst Ende des Jahres fließen werden, wollen sie Dutzende Projekte umsetzen. Mitte des Jahrzehnts sollen 15 000 Elektrofahrzeuge in der Region unterwegs und 3700 Ladesäulen aufgestellt sein. Große Pläne.
Auf der Schöneberger Insel laufen die Vorbereitungen seit 2009. Und ihre Ideen streuen bereits. Mehrere Carsharing-Dienstleister buhlen in der Hauptstadt um Kunden. Mit Multicity haben Citroën und die Deutsche Bahn quasi über Nacht eine Flotte von 100 Elektroautos in der Stadt verteilt, die jedermann jederzeit für 39 € am Tag oder 2,50 € pro 10 min leihen und nach der Fahrt überall in der Stadt abstellen kann. Bis 2014 soll die Flotte der lila-weißen Citroën C1 auf 500 Stück wachsen.
„Schon jetzt hat Berlin die weltweit größte privat nutzbare Elektroauto-
flotte, die obendrein komplett mit regenerativem Strom fährt“, betont Knie. Ohnehin mache der eng getaktete öffentliche Verkehr das eigene Auto für immer mehr Berliner verzichtbar. Das gilt erst recht, wenn die Vernetzung mit dem Carsharing und Fernverkehr gelingt – etwa mithilfe von verkehrsmittelübergreifenden Mobilitätskarten.
Knie hofft, dass die Ideen aus der Keimzelle am Gasometer schnell in die Stadt hineinwachsen. Auf dem Campus läuft die Vernetzung auf Hochtouren. Hier debattieren Interessierte, stellen Start-ups neue Geschäftsideen vor. Hier findet nicht zuletzt das praktische Experiment des intelligent gesteuerten lokalen Stromnetzes statt, in dem mobile und stationäre Speicher die schwankende Produktion lokal erzeugter erneuerbarer Energie ausgleichen.
Künftig wird dann märkischer Saft in Berliner Stromern fließen. „Wir wollen hier einen Blueprint für ein dezentrales Versorgungsnetz schaffen, das in der Region wachsen und internationale Strahlkraft entfalten soll“, erklärt Knie. In China gebe es großes Interesse an solchen Lösungen. Doch wie beim Transrapid könne es nicht wieder laufen. Er ist überzeugt: „Wir müssen die Ideen hier realisieren, sie greifbar und erfahrbar machen, um glaubwürdig zu sein.“ Ein wichtiger Ideengeber für den Campus als Living Lab und Schaufenster sei der ehemalige Audi-Ingenieur und heute Wissenschaftsminister Chinas Wan Gang.
Und so ist der ganze Campus ein Demonstrator. InnoZ-Mitarbeiter Christian Balint übernimmt es, die Funktion des Micro Smart Grids zu erläutern. Versiert führt er durchs Menü eines riesigen Touchscreens, auf dem die Energieflüsse zwischen Wind- und Solaranlagen, Speichern und dem Außennetz dargestellt sind. Noch sind hier erst 53,5 kW Photovoltaik, 5 kW Windleistung und ein 2-kW-Blockheizkraftwerk installiert, die verschiedene gewerbliche Verbraucher, Ladesäulen und die Großbatterie versorgen.
„Ziel ist es, so wenig Strom wie möglich nach außen zu geben und umgekehrt so wenig wie möglich von außen zu beziehen“, erklärt er. Autarkie ist aber kein Dogma. Vielmehr geht es darum, einen ökonomisch sinnvollen Mix aus Eigenerzeugung und „Fremdstrom“ zu finden.
Bis 2020 sollen hierzulande mindestens 35 % des Energiebedarfs aus regenerativen Quellen kommen – ein Ziel, das auch die Region und die Deutsche Bahn verfolgen. Balint verstellt die Parameter in der Simulation entsprechend und zeigt, wie sich Flaute und Dunkelheit dann auf die Energieflüsse auswirken. Klar wird: Puffer sind unverzichtbar.
Es wird künftig mehr als bisher nötig, Szenarien durch historisch unterfütterte Algorithmen frühzeitig zu erkennen. Nur so ließen sich Verbraucher steuern und Strom entsprechend der jeweils sensorisch erfassten Nachfrage auf Verbraucher, Speicher und das externe Netz verteilen. Zukunftsmusik, deren einzelne Takte die Forscher im Schöneberger Mikronetz in den nächsten Monaten und Jahren einüben wollen.
„Ich selbst arbeite aktuell im Zuge meiner Bachelorarbeit daran mit, die Algorithmen zu schreiben“, berichtet Balint. Ein weiterer Vorteil des Living Lab: Indem Nachwuchsforscher wie Balint die Ideen real umsetzen, reifen im Mikrokosmos am Gasometer auch die Spezialisten heran, die vernetzte Städte weit über die Förderphase des Schaufensterprojekts hinaus brauchen werden.
Die VDI nachrichten porträtieren in den nächsten Wochen die anderen drei Schaufenster für die Elektromobilität.
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