Warum der ÖPNV die Konkurrenz durch Carsharing braucht
Die ARD hinterfragt Heilsversprechen der Carsharing-Anbieter und zeichnet eine düstere Zukunftsvision von verstopften Straßen. Verantwortlich dafür macht sie die Autolobby. Lösungen bleibt sie jedoch schuldig und verurteilt pauschal smarte und digitale Modelle für den Verkehr von morgen. Zu Unrecht.
Großstädten wird in naher Zukunft oft pauschal der endgültige Verkehrsinfarkt prognostiziert. Mit sachlichen und überzeugenden Argumenten untermauert, kommt auch der Film von Heiner Hoffmann und Achim Reinhardt aus der „Report“-Redaktion des SWR zu diesem Schluss. Das Thema ist jedoch viel zu komplex, um alle Seiten in einer dreißigminütigen Dokumentation zu beleuchten. Und so konzentriert sich der Film auch auf nur einen Teilaspekt: Das Car- bzw. Ridesharing. Unter dem Credo „smart und digital“ versprechen die privaten Dienste-Anbieter laut den Autoren, alle Verkehrsprobleme zu lösen, für die Verkehrsplaner seit Jahrzehnten offenbar keine Antworten gefunden haben. Mit teilweise fatalen Folgen.
Täglich 80.000 Mal um die Welt – Deutsche so mobil wie nie
3,2 Milliarden Kilometer legen die Deutschen zusammen jeden Tag zurück. Damit fahren sie umgerechnet jeden Tag unglaubliche 80.000 Mal um die Erde. Die Verkehrsnachfrage hat damit einen Höchststand erreicht. Das sind die ersten Teilergebnisse der neuen Mobilitätsstudie (MiD) des infas Instituts. Im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums (BMVI) wurden rund 155.000 Menschen nach ihren Mobilitätsgewohnheiten gefragt. Das ist laut BMVI die weltweit größte Studie zu dem Thema, bei dem auch Städten und Gemeinden sowie lokale Verkehrsträger und -betriebe einbezogen wurden. Alle Verkehrsmittel wurden unter die Lupe genommen: Auto, ÖPNV, Carsharing, Fahrrad, aber auch der Gang zu Fuß. Für diesen Mobilitätsrekord machen die Forscher die wachsende Bevölkerung und die zunehmende Beschäftigung verantwortlich.
Carsharing – hohe Erwartungen, aber selten genutzt
Viel diskutiert wird in den vergangenen Jahren Carsharing. Und Carsharing ist bundesweit offenbar so beliebt wie nie. DriveNow, Car2go, Flinkster und Co. – Mehr als zwei Millionen Menschen nutzen aktuell das innerstädtische Miet-Angebot. Das hat vor wenigen Wochen der Bundesverband Carsharing in seinem Jahresbericht veröffentlicht. Zum Vergleich: 2015 waren es laut dem Verband gerade einmal halb so viele Nutzer. Vor allem in den Metropolregionen finden die Angebote Nutzer: Bis zu 14% der Städter sind gemeldete Mitglieder, mit wachsender Tendenz.
Außerhalb der Großstädte zeigt sich jedoch ein ganz anderes Bild. Zu diesem Ergebnis kommt die Mobilitätsstudie des BMVI. Die wenigen Angebote im ländlichen Raum verzeichnen fast keine Kunden. Lediglich 1 bis 3% der Bundesbürger sind hier überhaupt Mitglied in einem Carsharing-Netzwerk. Doch selbst in den Großtädten gilt: Dem zunächst beachtlichen Wert steht eine eher geringe tatsächliche Inanspruchnahme gegenüber. De Facto nehmen bis zu 71% der registrierten Kunden nur selten (weniger als ein Mal pro Monat) bis nie einen der Wagen in Anspruch. 24% nutzen die Vehikel immerhin an 1-3 Tagen pro Monat und nur gut 5% nutzen sie mindestens einmal die Woche. Carsharing-Mitglied zu sein bedeutet also definitiv nicht, auch Carsharing-Nutzer zu sein. „Das Angebot wird so zu einer Art Option im Bedarfsfall und nicht zu einem regelmäßig genutzten Angebot“, heißt das vorläufige Fazit der Studie. Damit ist der absolute Anteil der Carsharing-Flotten am Verkehr derzeit noch marginal.
Carsharing: Einstiegsdroge der Autolobby?
Noch spielen die Angebote also offenbar keine wesentliche Rolle. Die ARD-Reportage sieht in den Angeboten aber eine große Gefahr. Sie zitiert Verkehrsexperten, die hierin eine Verführung durch die Anbieter und damit der Autolobby sehen, um junge Kunden wieder langfristig ans Auto zu binden. „Insbesondere Free-Floating-Carsharing-Modelle sind auch häufig die Einstiegsdroge“ konstatiert Tilmann Santarius, Professor an der Technischen Universität Berlin in dem Film. „Da wird jungen Menschen das Fahren in einem schicken BMW schmackhaft gemacht. Erst nutzen sie es dann als Carsharing und vielleicht später, wenn sie älter werden, entscheiden sie sich dann doch für die Anschaffung eines solchen BMWs. Das ist natürlich kontraproduktiv“, so der Verkehrsexperte weiter. Auch in Werbespots, so die Autoren des Films, würden die Fahrzeuge der Carsharing-Anbieter als bequeme und ästhetische Lustobjekte für eine hippe, urbane Kundschaft angepriesen, die Lust aufs Auto machen.
Zu einem anderen Bild hingegen kommt die neue Mobilitätsstudie des BMVI. Hiernach verlieren insbesondere bei der jungen Generation Autos in Metropolen und Großstädten an Bedeutung. Ein eigener PKW ist sogar eher out. Nur noch 38% nutzen es. Genau das Gegenteil ist in ländlichen und dörflichen Regionen der Fall. Hier sind bis zu 71% aller Deutschen mit dem Pkw unterwegs. Ob alleine oder als Beifahrer. Insbesondere öffentliche Verkehrsmittel (5%) und das Fahrrad (7%) spielen hier kaum eine Rolle. In den Metropolen sind sie hingegen sind Bus- und Bahn (20%) und das Rad (15%) immer wichtigere Transportmittel. Stattdessen gewinnen andere Verkehrsträger wie Bus- und Bahn, aber eben auch das Carsharing zunehmend an Bedeutung.
Interpretiert man diese Ergebnisse, kommt man zu dem Schluss, dass ein Mix aus Angeboten für vornehmlich jüngere Bewohner von Metropolregionen maßgeblich für die Fortbewegung ist. Das Carsharing ist dabei noch ein eher kleiner Baustein.
ÖPNV: Verdrängung des öffentlichen Nahverkehrs?
Die ARD-Reportage offenbart einen sehr wichtigen Aspekt, der dringend öffentlich diskutiert werden muss: Treten die privaten Anbieter in Konkurrenz zu öffentlichen Verkehrsmitteln und nehmen sie ihnen sogar die Kunden?
Carsharing-Anbieter versprechen, die Verkehrsbelastung in Städten zu reduzieren. DriveNow etwa beruft sich in einer Pressemitteilung auf mehrere namentlich nicht genannte Studien, nach denen ein einziges Carsharing-Fahrzeug mindestens drei private Pkw substituiert.
Die Dokumentation macht mehrere Tests u.a. am Münchener Flughafen. Hier ist eine ganze Ebene für flexibles Carsharing reserviert. Nach ihren Motiven gefragt, antworten die Nutzer des Systems mehrheitlich, dass es schlicht bequemer und billiger sei als der ÖPNV. Alle räumen jedoch ein, dass sie ohne das Angebot, mit öffentlichen Verkehrsmitteln angereist wären. Hier verdrängen die Carsharing-Anbieter ganz offensichtlich Bus und Bahn.
Laut der Mobilitätsstudie des BMVI haben Bus und Bahn in den vergangenen neun Jahren jedoch keineswegs Fahrgäste verloren, sondern sogar zugelegt: 2008 wurden 10% aller Wege mit ÖPNV zurückgelegt, 2017 waren es 11%. Darüber hinaus werden hiermit längere und weitere Strecken gefahren. Bei der Bilanz der zurückgelegten Kilometer stieg der Anteil der öffentlichen Verkehrsmittel von 15% in 2008 auf 19% im Jahr 2017. Dennoch zeigt sich ein Phänomen, das dem ÖPNV ein Signal sein sollte: Die Menschen sind mit dem Angebot unzufrieden. Lediglich jeder Zehnte Nutzer findet Bus und Bahn „sehr gut“. Mehr als die Hälfte der Befragten griff zu einer Bewertung von „befriedigend“ oder schlechter. Hier haben die Anbieter öffentlicher Verkehrsangebote offenbar Handlungsbedarf, wenn sie die Fahrgäste nicht an das Auto oder private Anbieter verlieren wollen.
Einfluss der Carsharing-Anbieter auf die Politik
Eine besondere Stärke des Dokumentarfilms ist, dass er zeigt, wie die privaten Anbieter vermehrt Einfluss auf die Politik nehmen wollen und dabei ganz offensichtlich offene Türen einrennen. Politiker heißen die Firmen willkommen. Sie hoffen offensichtlich darauf, die Stauproblematik nahezu kostenlos gelöst zu bekommen. Kein Wunder, denn Staat und Politik haben es seit Jahrzehnten versäumt, den öffentlichen Nahverkehr effektiv auszubauen, um den heutigen Erfordernissen gerecht werden zu können. Dafür fehlte stets das Geld.
Jetzt zeigen die beiden Filmemacher, dass einige der Mobilitätsdienstleister den Politikern gleich ganze Textpassagen angeboten haben, um die Gesetze entsprechend beeinflussen zu können. Konkret geht es um eine Veränderung des Personenbeförderungsgesetzes. Diese wäre nötig, um insbesondere Rideshare-Fahrdienstleistern wie Uber hierzulande die Türe zu öffnen. Bislang verbietet das Gesetz in seiner heutigen Form dessen Geschäftsmodell, nämlich ohne größere Einschränkungen private Fahrer als Chauffeure einzusetzen.
Verkehrswende zur Elektromobilität – Anbieter haben starke Argumente
Glaubt man dem Branchenverband, vermag das Prinzip der organisierten gemeinschaftlichen Autonutzung einen wesentlichen Beitrag zur Verkehrswende hin zur Elektromobilität zu leisten: Von rund 18.000 aktuell angebotenen Fahrzeugen, verfüge jedes zehnte bereits über einen Elektro oder Hybridantrieb. Bundesweit habe das Anfang 2017 lediglich für jedes tausendste Fahrzeug gegolten, so der Verband. Der Elektro- und Hybridanteil ist damit 100-mal höher als im nationalen Pkw-Bestand.
Die Stadt Hamburg hat angekündigt, bis 2019 insgesamt mehr als 1.000 öffentliche Ladepunkte und Parkplätze für Elektroautos bereitzustellen. Hintergrund ist ein Kooperationsvertrag mit DriveNow. Das Carsharing-Joint-Venture der BMW Group und Sixt SE will hier seine Stromer-Flotte von aktuell rund 200 Fahrzeugen auf insgesamt 550 ausbauen; abhängig von der Entwicklung der Ladeinfrastruktur der Hansestadt. Die reagierte und machte mit dem Unternehmen einen entsprechenden Vertrag. Andere Städte und Kommunen bauen die E-Tankstellen zum Teil nur schleppend aus, weil es schlicht zu wenig Elektroautos gibt. Es fehlt an Anreiz. Den liefern die Carsharing Anbieter gerade.
In der Verantwortung der Politik
Fakt ist, dass Politik und Staat nicht ihre Verantwortung aus der Hand geben dürfen und den Versprechungen privater Verkehrsanbieter blind folgen. Sie sind dafür verantwortlich, allen Menschen einen funktionierenden öffentlichen Nahverkehr zu einem vernünftigen Preis zur Verfügung zu stellen; nicht nur um den Verkehrskollaps abzuwenden. Private Anbieter können unter gesetzlichen Auflagen dazu beitragen, die Situation zu verbessern. Ihre Mobilitäts- und Geschäftsmodelle haben es verdient, eine Chance zu bekommen. Sie entwickeln Techniken und Modelle, wo der Staat versagt hat – nämlich Verkehrskonzepte für die Zukunft einer immer mobileren bzw. auf Mobilität zwingend angewiesenen Gesellschaft vorzudenken und bereitzustellen.
Sie dürfen aber andererseits keinesfalls mit gemeinnützigen Organisationen verwechselt werden, mit Heilsbringern, die unsere Probleme kostengünstig lösen. Auch wenn es eine leichte, eine verführerische Lösung sein mag – Politik und Staat dürfen sich nicht ihrer Verantwortung entziehen.
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