Drahtseilakt – reif fürs Guinness-Buch
Mehr als zwei Jahre entwickelten die Fachleute von Bridon International das mit 320 t schwerste je hergestellte Stahlseil. Im Golf von Mexiko wird Big Hydra eingesetzt, um in rund 2000 m Wassertiefe Pipelines zu verlegen.
Gelsenkirchen-Schalke, die Magdeburger Straße um Mitternacht: Vor den Toren der Firma Bridon International flammt ein grelles Lichtermeer gen Nachthimmel: Das zuckende Warnlicht der Begleitfahrzeuge mischt sich in das kreisende Blau der Streifenwagen. Funksprüche, das tiefe Wummern laufender Motoren – es laufen die letzten Vorbereitungen zu einem Drahtseilakt der besonderen Art.
Die Arbeitskräfte der Nachtschicht haben sich auf dem Werksgelände versammelt. Die Blicke sind auf die Maschinen des 70 m langen Lastzugs gerichtet: Eingekesselt von zwei Lkw, die als Zug- und Druckmaschine für den Antrieb sorgen, gilt das Interesse der Kesselbrücke, an deren Kränen das schwerste Seil der Welt hängt: aufgespult auf einer 18 t schweren Haspel, umhüllt von einer blauen Schutzfolie. „Hier ist Europas größte Kesselbrücke im Einsatz, die maximal 380 t befördern kann“, sagt Werner Altenwerth von der Spedition.
Momentaufnahmen eines Seil-Projekts der Superlative: Binnen vier Wochen wurde die Big Hydra, 320 t schwer und 3,4 km lang, in der Werkshalle von Bridon International gefertigt. Am frühen Morgen soll der gewichtige Draht vom Gelsenkirchener Hafen in den Golf von Mexiko verschifft werden. Das Seil wird dort gebraucht, um Pipelines in die Tiefe des Meeres hinabzulassen.
Bis zum Gelsenkirchener Stadthafen ist es aber noch ein langer Weg. Straßensperren, Umleitungen, enge Kurven – in den Minuten nach Mitternacht treffen die Verantwortlichen die letzten Absprachen für einen Transport, der Nerven und Geduld fordert. Im Pkw würde man von der Magdeburger Straße aus den Stadthafen in zehn Minuten erreichen. „Für die Fahrt zum Stadthafen haben wir vier Stunden eingeplant“, sagt Altenwerth. „Startklar“, tönt es aus einem der Funkgeräte. Es folgen weitere Funksprüche, die inmitten der aufheulenden Motoren untergehen. Im Schritttempo setzen sich die 236 Räder des Schwertransports in Bewegung.
In den Verkehrsnachrichten wurde vor Glatteis im Raum Gelsenkirchen gewarnt. Momente der Anspannung, die Andreas Heinrich, Werksleiter von Bridon, kalt lassen. „Die Spediteure wissen, was auf sie zukommt. Wir haben unseren Anteil getan.“
Es ist das dritte Stahlseil dieser Größenordnung, das Bridon in seiner traditionsreichen Werksgeschichte in Gelsenkirchen angefertigt hat. 1853 gegründet als „Cossack und Comp“, wechselte der Firmenname in den 151 Jahren insgesamt 14 Mal. Seit 1995 gehört der Seil-Hersteller zur englischen Bridon plc., einem Mitglied der internationalen FKI-Gruppe.
Seit 2004 bekleidet Andreas Heinrich den Posten des Werksleiters. Der Diplom-Ingenieur für Maschinenbau trägt die Verantwortung für die gesamte Produktion, an der 78 Arbeitskräfte im Drei-Schicht-Betrieb mitwirken. Hergestellt werden Seile für den Bergbau, Brücken, Stadien und andere Flächentragwerke für Seilbahnen oder für die Offshore-Industrie.
Der Abnehmer des 320 t schweren Stahlseils stammt aus letzterem Segment. „Im Golf von Mexiko verlegt die Firma Heerman Pipelines. Die Seile werden in dem J-Lay-Tower eines Kranschiffes befestigt, womit die Röhren in das Salzwasser hinabgelassen werden“, erklärt Lothar Freitag von der auftraggebenden Firma Drahtseile Gebr. Henschel in Viersen.
Beim Big Hydra-Stahlseil handelt es sich um eine Spezialanfertigung. Ziel ist es, ein mehrlagiges, drehungsfreies Litzenspiralseil zu kreieren, zu dessen Fertigstellung die Maschinen vor Ort von der Belastung her imstande sind. „Unsere Seile verfügen sehr oft über Gewichte von 180 t. Unsere Konzentration gilt den schweren Seilen mit einem Durchmesser über 50 mm“, erklärt Andreas Heinrich. Ein Seil-Projekt dieser Größenordnung verlangt dem Hersteller eine hohe Kompetenz ab. „Für die Bewältigung solcher Aufträge müssen die Hersteller die Produktion der einzelnen Drähte beherrschen und darüber hinaus wissen, wie man diese einzelnen Drähte zu einem Seil verlitzt“, sagt Prof. Michael Pohl vom Lehrstuhl für Werkstoffprüfung an der Ruhr-Uni Bochum.
Ein Besuch am Mittag vor dem großen Transport in der Bridon-Werkshalle. Unrhythmisches dumpfes Stottern, Raunen und Quietschen weht von den mächtigen Maschinenbauten in den Innenraum. Es riecht nach Terpentin, Rauch, Qualm. Spuren von Schmieröl überdecken den steinernen Boden. Wenige Meter vom Eingang entfernt stehen riesige Haspeln im Verladebereich. Hier fließt dichter Draht, gespannt wie die Fäden eines Spinnenetzes, in das Innenleben der Verlitzmaschine.
Als Ausgangswerkstoff dient unlegierter Stahl in Form von Walzdraht, der von der Mutterfirma in England gezogen und nach Gelsenkirchen geliefert worden ist. Bei der Konstruktion des Drahtseiles konnte der Betrieb in der Revierstadt auf Erkenntnisse zurückgreifen, die Bridon aus umfangreichen Tests vorliegen.
So sind etwa bei der Deutschen Montan Technologie diverse Seilproben auf ihr eigenes Drehmoment bei Last überprüft worden. „Wir sind bei einer 31-litzigen Konstruktion stehen geblieben, die 2002 in zweifacher Ausführung in den Golf von Mexiko ausgeliefert wurde“, sagt Heinrich. Das Stahlseil hatte eine Länge von 3150 m und ein Nettogewicht von 263 t – der alte Weltrekord von Bridon International, der im Guinness-Buch der Rekorde verewigt ist.
Rekordverdächtig ist ebenso die dröhnende Verseilmaschine, die größte Vorrichtung der Welt. Die Litze, inzwischen auf einer Maschinenspule geschlagen, wandert in besagten Korpus, in dem sich acht Spulen um die eigenen Achsen drehen. Die Litzen winden sich um ein Herz aus einem weiteren Stahlseil. „Während der Verseilung wird noch Schmiermittel auf die Litzen gegeben, das die Reibung zwischen den Drähten vermindert und zum Korrosionsschutz beiträgt“, sagt Andreas Heinrich.
Dieser Abschnitt zählt zu den wichtigsten im Produktionsprozess. „Stahlseile sind sehr korrosionsanfällig, insbesondere gegenüber einer heimtückischen Korrosionsart, nämlich der Spannungsrisskorrosion“, sagt Pohl. Zur Prävention könne man die Einzeldrähte mit Zink oder mit einem Polymer wie Lack zu überziehen.
„Nach dem Vorziehen des verwendeten Walzdrahtes durchläuft der Draht ein Zinkbad, in dem eine Zinkschicht aufgebracht wird, ehe der Draht dann vom Vorzug auf das Fertigmaß gezogen wird“, schildert Heinrich die hauseigenen Maßnahmen. Die Zinkhülle zögert die Korrosion im warmen Salzwasser im Golf von Mexiko hinaus, erhöht dadurch die Lebensdauer des Seils. Besonders gefährdet ist das Seil an der Stelle, wo es aus dem sauerstoffarmen Gewässer an die Oberfläche tritt.
Am Ende der 110 m langen Verseilmaschine ist eine mächtige Haspel in einen Wickler eingebaut, auf den das Drahtseil gewunden wird. Um die Fertigstellung des Big-Hydra-Stahlseils gewährleisten zu können, hat das Personal um Werksleiter Heinrich noch zusätzliche Unterrollböcke unter die beiden Flansche des Aufwicklers gepackt. Das Besondere an den Unterrollböcken ist ein Getriebemotor, der zusätzlich noch Schubkraft verleiht.
Nach vier Wochen der Produktion verlässt das Stahlseil das Werk. Beim Anblick der Haspel inmitten der Nacht überkommt Werksleiter Andreas Heinrich ein Gefühl des Stolzes: „Es ist ein wenig Genugtuung nach den Anstrengungen der letzten Monate.“
JOHN PUTHENPURACKAL
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