Eine Tischtennis-Ära geht zu Ende: Plastik statt Zelluloid
Wer hätte gedacht, dass Tischtennisbälle feuergefährlich sind? Sind sie, und deshalb beginnt mit der aktuellen Europameisterschaft in Lissabon eine neue Ära: Ab jetzt wird Tischtennis nur noch mit Plastikbällen gespielt.
Für Tischtennisspieler beginnt eine neue Zeitrechnung: Zum ersten Mal seit fast neun Jahrzehnten fliegen bei einer internationalen Meisterschaft nicht die auch jedem Hobbyspieler vertrauten Zelluloidbälle über die Platte. Nein, jetzt machen ordinäre Plastikbälle Ping und Pong bei der am Mittwoch begonnenden Europameisterschaft in Lissabon.
Damit folgen die Sportler einer Weisung des Tischtennis-Weltverbandes (ITTF). Nicht so tragisch, könnte man meinen, schließlich verhalten sich die Plastikbällchen kaum anders als die gewohnten Zelluloidkugeln. Allerdings ist „kaum“ mehr als „nicht“, und das kann im Spitzensport durchaus ausschlaggebend sein.
Andere Geräusche, andere Flugbahn, andere Rotation
Die Unterschiede mögen marginal sein, ziehen sich aber durch sämtliche Eigenschaften. Es fängt an mit dem Klang – statt des vertrauten Ping und Pong, das der Sportart einen vor allem im Freizeitsport beliebten Zweitnamen beschert hat, ertöne jetzt ein etwas dumpferes Geräusch, schreibt die Wochenzeitung Die Zeit: Das Geräusch ähnele jetzt eher einem trockenen Plock.
Während der Sound wenig Auswirkung auf das Spiel an sich haben dürfte, sind die Flug- und Rotationseigenschaften da schon ausschlaggebender. In der Zeit spricht der Deutsche Profispieler Timo Boll unter anderem von einem „Tick weniger Spin“, den man dem Ball mitgeben könne, bleibt aber betont ruhig – schließlich seien die Bedingungen für alle gleich.
Begeistert sind die meisten Sportler nicht gerade über die Regeländerung: Sie haben ein anderes Flugverhalten festgestellt, zum Beispiel verliere der Ball schnell sein Tempo. Dazu komme, dass die Qualität der Bälle je nach Hersteller stark schwanke, sie schwerer oder leichter seien, eine Naht oder eben keine hätten und höher oder flacher flögen – offenbar müssen sich auch die Hersteller noch auf die neuen Gegebenheiten einspielen.
Veränderter Fertigungsprozess
Während Zelluloidbälle aus zwei Halbschalen bestanden, die wiederum aus einzelnen Platten geprägt wurden, können Plastikbälle entweder im Ganzen gegossen oder ebenfalls aus zwei Teilen zusammengefügt werden. Und auch mit dem Material müssen viele Hersteller wohl noch experimentieren. Schließlich soll es auch nach mehrfachem Ballkontakt noch den Spin durch den Schläger annehmen und nicht mit der Zeit spiegelglatt werden – ein weiterer Kritikpunkt, den Spieler an verschiedenen Testbällen hätten, berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung bereits im Juni.
Außerdem müssen die Bälle die Wucht der Schläge aushalten, die sie mit bis zu 170 Kilometern pro Stunde über die Netze katapultieren. Sie müssen trotz der dadurch entstehenden Verformung wieder in eine perfekt runde Form zurückspringen. Und sie dürfen bei 40 Millimeter Durchmesser nur 2,7 Gramm schwer sein.
Poff statt Ping und Pong
Warum konnte man es dann nicht einfach beim Zelluloidball belassen? Aus demselben Grund, warum das Material schon seit 1951 nicht mehr für Kinofilme verwendet wird: Es ist einfach zu gefährlich. Viel zu oft machten die Zelluloidbälle schon Poff, bevor sie auch nur einmal Ping und Pong machen konnten – Zelluloid ist hochentzündlich.
Wie die FAZ schreibt, reichen schon hochsommerliche Temperaturen, um fatale Prozesse auszulösen: Vor einigen Jahren zum Beispiel sei der Inhalt eines kompletten Containers in die Luft geflogen, weil er zu lange in der Sonne gestanden habe.
Bereits der Herstellungsprozess von Zelluloid, das Mitte des 19. Jahrhunderts als preiswerter Elfenbeinersatz für Billardkugeln entwickelt worden ist, hat es in sich: Die Kunststoffverbindung aus Cellulosenitrat und Campher wird unter Verwendung von Salpetersäure hergestellt. Dieses Verfahren sei über weite Strecken mit der Herstellung des Sprengstoffs Nitroglycerin identisch, so die FAZ. Der Arbeitsschutz in China und anderen Ländern, die nahezu sämtliche Tischtennisbälle produzieren, lasse zudem zu wünschen übrig: Die Gesundheitsgefahren für die Arbeiter seien viel zu hoch.
Zelluloid gilt als Gefahrenstoff
Wegen all dieser Eigenschaften gilt Zelluloid als Gefahrenstoff – mit weitreichenden Folgen: Der Paketdienstleister DHL zum Beispiel weigert sich, Tischtennisbälle zu verschicken. Auch Kinofilme, die bis Mitte der 1950er Jahre vielfach aus Zelluloidstreifen bestanden, dürfen nur unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen gelagert werden. Wenn das ursprünglich wasserhaltige Material mit der Zeit austrocknet, wird es allmählich zu Sprengstoff und kann sich spontan entzünden.
Bei den Tischtennisbällen hat der Umstellungsprozess deutlich länger gedauert als beim Filmmaterial, soll jetzt aber bald geschafft sein. Seit Mitte der 80er Jahre wird schon mit Plastikbällen experimentiert, und es gab bereits mehrere vergebliche Versuche, den Zelluloidball offiziell zu verbannen, zuletzt nach den Olympischen Sommerspielen 2012.
Der ITTF ist optimistisch, dass es jetzt klappt: Nachdem nun die Europameisterschaft mit den Plastikbällen gespielt wird, soll demnächst auch der Breitensport nachziehen. Was jedoch mit den riesigen Lagerbeständen an Zelluloidbällen passiert, die Hersteller, Händler, Vereine und Sportler noch horten, weiß derzeit niemand. Vielleicht sollte man sie sicherheitshalber zu den alten Filmen aus den Vor-50ern legen.
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