Werkstoffe 17.08.2012, 11:00 Uhr

Formgedächtnislegierungen: Legierung „erinnert“ sich ihres Ursprungs

Immer kleiner sollen Strukturbauteile sein, leichter und effizienter – das sind die Anforderungen der Industrie. Der Leichtbauzug ist in voller Fahrt und macht auch vor der Mechatronik nicht Halt, wie die Formgedächtnistechnologie zeigt.

Formgedächtnislegierungen: Forschung an der Ruhr-Universität Bochum.

Formgedächtnislegierungen: Forschung an der Ruhr-Universität Bochum.

Foto: Ruhr-Universität Bochum

In einem leeren Glas liegt ein kleines Knäuel aus Metalldraht: verknotet, zerknittert, verbogen. Erst heißes Wasser bringt Ordnung in das Chaos. In Sekundenbruchteilen – für das menschliche Auge kaum wahrnehmbar – nimmt der Draht Form an in dem Glas liegt nun eine Büroklammer mit makellos glatter Oberfläche.

Der Draht „erinnert“ sich seiner ursprünglichen Form, ein thermischer Effekt, der der kleinen Gruppe der Formgedächtnislegierungen (FGL) ihren Namen spendet. Diese metallischen Werkstoffe erhalten durch einen Glühprozess einmalig ihre Ursprungsform, die sie einnehmen, sooft sie verformt und anschließend erwärmt werden.

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Atome nehmen durch Temperaturveränderungen ihre ursprüngliche Ordnung ein

Der Schlüssel zum Verständnis liegt auf der Ebene des für Metalle typischen Kristallgitters, dessen Aufbau temperaturabhängig ist. In einer Niedertemperaturphase liegt das Material im Martensit mit Zwillingsbildung vor. Bei der Zwillingsbildung liegen die Gitterschichten gefaltet vor – wie bei einer Ziehharmonika. Unter mechanischer Spannung beginnen sich die Schichten in Richtung der Belastung auszurichten, die Legierung verformt und längt sich. Beim Erwärmen ensteht oberhalb einer Schalttemperatur die Austenitstruktur: Die Atome nehmen wieder ihre ursprüngliche Platzordnung ein.

Dieser vollständig reversible Effekt ermöglicht eine Vielzahl technischer Anwendungen. „Es ist eine Querschnittstechnologie, die – ähnlich einem Elektromagneten – in vielen verschiedenen Industrien zum Einsatz kommt“, erklärt Alexander Czechowicz, der am Lehrstuhl für Produktionssysteme der Ruhr-Universität Bochum zu Formgedächtnislegierungen forscht.

Der Wissenschaftler sieht Anwendungen für Materialien mit dem thermischen Effekt „immer da, wo Elektromagneten durch leichtere und kostengünstigere Materialien ersetzt werden sollen“, im Bereich der Aktorik. Es könne zwischen zwei definierten Materialzuständen, der Niedrig- und der Hochtemperaturphase, hin- und hergeschaltet werden. Auf diese Weise ließe sich etwa eine Tankklappe ver- und entriegeln oder ein Ventil ansteuern. „Wer Formgedächtnislegierungen verwendet, kann gegenüber einem Elektromagneten bis zu 80 % Gewicht einsparen“, sagt Czechowicz. Ein 2 mm starker Draht könne bereits eine Last von 140 kg über einen Hub von bis zu 8 % der Drahtlänge bewegen.

„Die Vorteile liegen im hohen Arbeitsvermögen das macht platzsparende Lösungen möglich“, berichtet auch Hans Nusskern, der beim Unternehmen Rau in Pforzheim Formgedächtnislegierungen entwickelt. Allerdings seien heutige Materialien – wie die klassischerweise verwendete Nickel-Titan-Legierung – im Bereich großer mechanischer Lasten noch deutlich träger als Elektromagnete. „Wir stehen vor einem Dilemma: Für große Kräfte braucht es auch große Drahtdurchmesser. Damit sinkt aber die Schaltfrequenz, mit der das Material umgewandelt werden kann“, erklärt der Werkstoffexperte.

Neue Legierungen könnten höhere Schaltfrequenzen für die Aktorik ermöglichen. Die Wissenschaftler setzen dabei auf eine Kombination der Metalle Nickel, Mangan und Gallium, die sich unter Einfluss eines Magnetfeldes umwandelt. „Solche magnetischen Legierungen lassen sich mit einer Frequenz von rund 1000 Hz schalten“, sagt Nusskern.

Vom thermischen unterscheiden die Werkstoffexperten noch einen weiteren, und zwar mechanischen Effekt: Materialien mit dem „superelastischen“ Effekt zählen zu den Formgedächtnislegierungen und besitzen über die gewöhnliche Elastizität hinaus noch eine weitere Verformung – ebenfalls vollständig reversibel. Sie lassen sich um bis zu 8 % ihrer Ausgangslänge dehnen. „Das entspricht dem zehnfachen Dehnungsvermögen von Stahl. Zudem bleibt die Spannung über die gesamte Längenänderung konstant“, erläutert Nusskern.

Formgedächtnislegierungen auch in der Medizin einsetzbar

Superelastische Materialien haben schnell ihren Weg in die Medizintechnik gefunden. Dort werden sie als Gefäßprothesen eingesetzt. Der Arzt führt den Stent in stark komprimiertem Zustand mit einem Werkzeug in das Gefäß ein. Verschwindet das Werkzeug, spreizt der Stent das Gefäß. Forscher arbeiten nun daran, künstliche Herzklappen aus solchen Werkstoffen herzustellen.

Zwar kennen die Forscher Legierungen, bei denen sich beide Effekte ausbilden ließen – so etwa Nickel-Titan, meist stellen sie jedoch nur einen von beiden ein. Denn die Nachwärmebehandlung und die genaue chemische Zusammensetzung, durch die der jeweilige Effekt maximal zum Tragen kommt, unterscheiden sich voneinander.

Beide Klassen von Formgedächtnismaterialien – jene mit dem thermischen und jene mit dem superelastischen Effekt – zeigen zudem sensorische Eigenschaften. „Bei Messung des elektrischen Widerstandes kann man dem Messwert eine bestimmte Längenänderung zuordnen und so eine Sensorfunktion nutzen“, beschreibt Czechowicz das Prinzip. Diese Eigenschaft könne man beispielsweise für die Onlinezustandsüberwachung von Bauteilen nutzen.

Weitere Anwendungen von FGL sieht Nusskern in der Adaptronik und in der Textilindustrie. „Formgedächtnislegierungen könnten zum Beispiel in Verbänden die Anpressdrücke regeln“, sagt der Werkstoffexperte.

Wissenschaftler prophezeien Formgedächtnislegierungen eine große Zukunft

Die Wissenschaftler und Hersteller prognostizieren der Technik eine große Zukunft. „Die Formgedächtnistechnik ist im Kommen“, sagt Nusskern. „Die Nachfrage boomt“, berichtet auch Czechowicz.

Die Werkstoffexperten müssen allerdings noch einige Hausaufgaben machen, bevor sie Formgedächtnismaterialien flächendeckend einsetzen können. So gilt es, den Temperaturbereich, in dem mit den Materialien gearbeitet werden kann, zu erweitern. Bei Nickel-Titan-Legierungen etwa liegt die Übergangstemperatur – die Obergrenze des Einsatzbereiches – bei 100 °C. Neue Legierungen auf Eisenbasis sollen diese Grenze hinausschieben. Die Werkstoffe lassen sich zum heutigen Zeitpunkt aber noch nicht effektiv schalten, da die Temperaturen für eine Phasenumwandlung zu weit voneinander entfernt liegen. Die Hysterese ist zu breit.

Hinzu kommt, dass Konstrukteure im Umgang mit FGL in der Regel unerfahren sind. Patentrezepte zur Lebensdauerberechnung und zur Dimensionierung suchen sie vergeblich. „Die Wirkungseinflüsse sind hochkomplex“, betont Czechowicz. Der Werkstoffwissenschaftler hebt zudem hervor, dass es im Bereich der FGL noch keine Richtlinien gibt. Das erschwere für die Anwender erheblich den Aufbau von Konstruktionsmethodiken.

Zuversichtlich ist er dennoch, vor allem wenn er darauf schaut, wie sich die Preise bei den Rohstoffen entwickeln. „Wir prognostizieren, dass die Formgedächtnistechnologie eher günstiger wird. Zwar ist Titan teuer, wir brauchen aber auch nur geringe Mengen. Elektromagneten hingegen dürften teurer werden, denn die darin verbauten Rohstoffe wie Seltenerdmetalle sind knapp.“

Ein Beitrag von:

  • Iestyn Hartbrich

    Iestyn Hartbrich

    Redakteur VDI nachrichten
    Fachthemen: Werkstoffe, Metallurgie, Maschinenbau, Automation, Luft- & Raumfahrt, Reportagen

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