Materialwirtschaft 03.08.2023, 12:54 Uhr

Wäre Sensation: Forschende wollen revolutionären Supraleiter entdeckt haben

Seit einigen Tagen sind Physikerinnen und Physiker auf der ganzen Welt in heller Aufregung. Eine Forschungsgruppe aus Südkorea will einen Supraleiter gefunden haben, der auch bei Raumtemperatur und normalem Atmosphärendruck funktioniert. Neben Neugier herrscht allerdings auch einiges an Skepsis.

Supraleiter

Supraleiter leiten Strom ohne elektrischen Widerstand, bislang funktioniert das jedoch nur bei tiefen Temperaturen und hohen Drücken.

Foto: Panthermedia.net/blazinek28

Ein südkoreanisches Forscherteam hat kürzlich in zwei wissenschaftlichen Studien behauptet, ein Material mit den Eigenschaften eines Supraleiters entwickelt zu haben. Die Legierung mit dem Namen „LK-99“ soll elektrischen Strom bei Raumtemperatur und normalem Luftdruck widerstandslos leiten. Bisher gibt es kein anderes Material, das unter so einfachen Bedingungen supraleitend ist. Es würde sich somit um eine absolute Sensation handeln, doch noch ist Vorsicht angesagt.

Wurde der „Heilige Gral“ der Materialwissenschaft entdeckt?

Wenn elektrischer Strom durch einen Leiter fließt, erwärmt sich dieser. Dieser Effekt wird durch den elektrischen Widerstand verursacht und führt zu Übertragungsverlusten. Im deutschen Stromnetz gehen laut Statistischem Bundesamt etwa 5,6 Prozent des erzeugten Stroms durch diesen Widerstand verloren, die sogenannten Netzverluste. Es gibt jedoch Materialien, die unter bestimmten Bedingungen keinen elektrischen Widerstand aufweisen, so genannte Supraleiter. Diese Materialien verlieren ihren elektrischen Widerstand meist unter hohem Druck oder bei sehr tiefen Temperaturen.

Ein Forschungsteam aus Südkorea behauptet nun in zwei Studien, ein Material entwickelt zu haben, das supraleitend ist. Das Besondere an LK-99 besteht darin, dass das Metall bei Raumtemperatur und Normaldruck Strom ohne elektrischen Widerstand leiten soll. Bisher gibt es kein Material, das unter vergleichsweise einfach zu erzeugenden Bedingungen supraleitend ist. Die Studie könnte daher einen wichtigen Durchbruch bedeuten – vorausgesetzt, alle Angaben stimmen. Die supraleitenden Studien aus Südkorea sind noch nicht von Fachkollegen begutachtet worden.

Zwischen großer Neugier und berechtigter Skepsis

Sollten sich die koreanischen Forschungsergebnisse bewahrheiten, könnte dies die Art und Weise, wie wir Strom erzeugen, übertragen, speichern und in Elektromotoren nutzen, revolutionieren. Allerdings gibt es auch berechtigte Zweifel an dieser Behauptung. An der TU Wien hat man das Material mit Hilfe von Computersimulationen untersucht und interessante Entdeckungen gemacht: Die berechneten Elektronenzustände deuten tatsächlich auf eine Eignung für Supraleitung hin. Das allein ist natürlich noch keine endgültige Bestätigung, aber ein zusätzlicher Ansporn, sich intensiv mit dem neuen Material zu beschäftigen.

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Für MDR Wissen haben sich auch Forscherinnen und Forscher des Leibniz-Instituts für Festkörper- und Werkstoffforschung (LIFW) in Dresden mit den Untersuchungen beschäftigt. Nicola Poccia, Forschungsgruppenleiter am LIFW, sagte als erste Reaktion auf die Veröffentlichung der Studie, er gehe davon aus, dass es sich nicht um einen Supraleiter handele. Seiner Meinung nach könnte das Experiment fehlerhaft gewesen sein.

Gegenüber MDR Wissen sagte Poccia weiter: „Was beobachtet wird, ist wahrscheinlich ein experimentelles Artefakt, gemischt mit mangelnder wissenschaftlicher Sorgfalt, im besten Fall. Die Präsentation ihrer Daten ist jedoch unübersichtlich, sodass es schwierig ist, in diesem Stadium eine endgültige Schlussfolgerung zu ziehen“.

TU Wien startete sofort Computersimulationen

Sofort nachdem die Entdeckung bekannt wurde, initiierten Prof. Liang Si und Prof. Karsten Held vom Institut für Festkörperphysik an der TU Wien Computersimulationen, um das neu entdeckte Material LK-99 zu analysieren. Ein Schlüsselkonzept bei dieser Untersuchung ist die Bandstruktur des Materials, wie Karsten Held erläutert: „Sie sagt uns, welche Kombinationen aus Geschwindigkeit und Energie für die Elektronen in diesem Material möglich sind. Wenn man diese Bandstruktur kennt, kann man viel über die elektrischen Eigenschaften des Materials aussagen“.

Mit Hilfe der Dichtefunktionaltheorie konnten Liang Si und Karsten Held die Bandstruktur berechnen. Die Ergebnisse zeigen, dass die elektrische Abstoßung zwischen den Elektronen dazu führt, dass das Material in reiner Form ein sogenannter Mott-Isolator ist. Das heißt, es leitet keinen elektrischen Strom, was gewissermaßen das Gegenteil eines Supraleiters ist. Es ist anzunehmen, dass bei den durchgeführten Experimenten unbeabsichtigt eine dotierte Variante des Materials verwendet wurde, bei der bestimmte zusätzliche Atome eingefügt wurden. Werden dem Material durch eine solche Dotierung zusätzliche Elektronen hinzugefügt, führt dies zu völlig anderen Ergebnissen.

Bandstruktur könnte auf Supraleitung schließen lassen

„Wir sehen relativ flache Linien in der Bandstruktur, und man weiß, dass es verschiedene Mechanismen gibt, die bei einer solchen Bandstruktur zu Supraleitung führen können“, sagt Karsten Held. Es deutet somit tatsächlich darauf hin, dass LK-99 unter geeigneter Dotierung die Eigenschaften eines Supraleiters annehmen könnte. „Bestätigt wird das von einer anderen Arbeitsgruppe aus Peking, die bei ersten Experimenten zum Ergebnis kamen, dass es sich bei LK-99 um einen paramagnetischen Isolator handelt. Man muss das Material dotieren, um die Bandstruktur zu erhalten, die potenziell Supraleitung ermöglicht“, so Held.

Zur gleichen Zeit führten auch drei weitere Forschungsgruppen Dichtefunktionaltheorie-Berechnungen durch und erzielten ähnliche Ergebnisse.  „Das ist noch kein Beweis für Hochtemperatur-Supraleitung, es ist nach wie vor möglich, dass es sich nicht um einen Supraleiter handelt. Aber unsere Ergebnisse nähren zumindest ein bisschen die Hoffnung, dass es sich tatsächlich um einen lange gesuchten Hochtemperatur-Supraleiter handeln könnte“, sagt Karsten Held.

Von gewöhnlichem Diamagnet bis Supraleiter ist vieles möglich

Bringt man einen Supraleiter auf einen Magneten, so entsteht an der Oberfläche des Supraleiters ein elektrischer Strom, der wiederum ein Magnetfeld erzeugt. Diese Wechselwirkung führt dazu, dass der Supraleiter vom Magneten abgestoßen wird und über ihm schweben kann. Das war eines der Argumente für die Supraleitfähigkeit von LK-99, weil genau das in einem Video zu sehen war. Dieser Effekt wurde inzwischen von anderen unabhängigen Forschungsgruppen erfolgreich reproduziert.

Allerdings wurde auch Kritik laut, da ein anderes physikalisches Phänomen in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen könnte. Es gibt verschiedene Formen des Magnetismus, darunter den Ferromagnetismus, den beispielsweise Eisen zeigt, wenn es von einem Magneten angezogen wird. Ebenso können paramagnetische Materialien von einem Magneten angezogen werden, aber im Gegensatz zu Eisen können sie sich nicht dauerhaft selbst magnetisieren. Andererseits gibt es den Diamagnetismus, bei dem magnetische Materialien von einem Magneten abgestoßen werden.

„Somit wäre es denkbar, dass LK-99, wenn es über einem Magneten schwebt, auch ein gewöhnlicher Diamagnet sein könnte. Das wurde in den letzten Tagen auch immer wieder vermutet“, sagt Karsten Held. Wobei er dies nach den theoretischen Berechnungen für weniger wahrscheinlich hält: „Die elektronischen Eigenschaften, die wir ausgerechnet haben, lassen nicht erwarten, dass LK-99 ein Diamagnet ist. Im Gegenteil: Angesichts der Verteilung der Elektronen würde man eher vermuten, dass LK-99 paramagnetisch sein sollte“.  Dies wird auch von den Experimenten in Peking bestätigt. Somit könnte das Schweben der LK-99-Proben tatsächlich auf einen Übergang in den supraleitenden Zustand hinweisen.

Wie geht es nun weiter?

Ist der „Heilige Gral“ der Materialwissenschaften endlich gefunden? Um dies zu überprüfen, sind noch viele weitere Schritte notwendig. Karsten Held betont: „Mein Geld würde ich derzeit nicht darauf wetten, dass es sich hier tatsächlich um einen Hochtemperatur-Supraleiter handelt – zumindest nicht bei einer Wettquote von 1:1. Aber die Ergebnisse zeigen zumindest, dass LK-99 tatsächlich ein sehr interessantes Material ist, das nähere Aufmerksamkeit verdient hat. Es bleibt spannend.“

Supraleiter bei Raumtemperatur haben das Potenzial, Wissenschaft und Technik zu revolutionieren, insbesondere aufgrund ihrer herausragenden Energieeffizienz. Sie könnten in zahlreichen Industriezweigen zu erheblichen Fortschritten führen, sei es bei Hochgeschwindigkeitszügen oder in der Energiewirtschaft. Darüber hinaus könnten Raumtemperatursupraleiter den Zugang zu Quantencomputern erleichtern, die bisher bei extrem tiefen Temperaturen arbeiten müssen, was technisch anspruchsvoll und teuer ist.

Sollten sich die Forschungsergebnisse des südkoreanischen Wissenschaftlerteams bestätigen, wäre dies zweifellos einer der bedeutendsten Durchbrüche in der Physik seit geraumer Zeit. Hyun-Tak Kim, einer der beteiligten Forscher, hat bereits seine Bereitschaft signalisiert, andere Wissenschaftler zu unterstützen, die versuchen wollen, die Ergebnisse des Teams zu reproduzieren.

Ein Beitrag von:

  • Dominik Hochwarth

    Redakteur beim VDI Verlag. Nach dem Studium absolvierte er eine Ausbildung zum Online-Redakteur, es folgten ein Volontariat und jeweils 10 Jahre als Webtexter für eine Internetagentur und einen Onlineshop. Seit September 2022 schreibt er für ingenieur.de.

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