Petrochemie weicht Bioraffinerie
In drei bis vier Jahrzehnten endet das Erdölzeitalter. Das wird nicht nur den Energiesektor verändern, auch die Chemiebranche braucht eine neue Rohstoffbasis. Die Lösung dieses Problems sehen viele Experten in Bioraffinerien. Sie sollen neben Faserwerkstoffen und Futtermitteln vor allem Basischemikalien, Kraftstoffe und grünen Strom liefern. Derzeit entstehen erste Pilotanlagen. VDI nachrichten, Berlin, 5. 2. 10, sta
„Ob Erdöl noch 35, 45 oder 50 Jahre weit reicht, ist unerheblich“, sagt Günter von Au. „Es ist in jedem Falle endlich – und wir müssen uns schleunigst um Ersatz kümmern.“ Als Hoffnungsträger sieht der Vorstandsvorsitzende der Süd-Chemie AG sogenannte Bioraffinerien. Analog zu Erdölraffinerien sollen sie künftig Kraftstoffe und Basischemikalien erzeugen – und zwar aus Holz, Stroh und Pflanzenresten. „Ob die Technologien dazu heute schon effizient und wettbewerbsfähig sind, spielt keine Rolle. Uns bleibt nichts anderes übrig, als auf sie zu setzen“, so der Konzernchef.
Weltweit treiben Forscher aus der Chemiebranche, dem Anlagenbau und den Hochschulen mehr oder minder reife Einzellösungen zur stofflichen Nutzung von Biomasse voran. Allein die Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe (FNR), Projektträger des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, fördert hierzulande rund 230 Projekte. Darin wollen Wissenschaft und Wirtschaft gemeinsam aus Pflanzen u. a. Stärke, Zucker, Öle, Fette, Proteine oder Fasern gewinnen und nutzen. Viele der Einzelinitiativen sollen künftig in Bioraffinerien zusammengeführt werden.
Bioraffinerien sollen der Chemiebranche jenes Set „unsterblicher“ Basischemikalien (u.a. Ethylen, Propylen, Benzol, Toluol und Xylole) liefern, auf dem die gesamte organische Chemie aufbaut. Bei einigen der Grundsubstanzen ist der Umbruch in vollem Gange. Bremsend wirkt nur die Wirtschaftskrise und der relativ niedrige Ölpreis. Die drei Chemiekonzerne Dow, Solvay und Braskem haben allerdings schon Baupläne für Ethylenwerke in Brasilien in der Schublade. Durch Dehydratisierung sollen diese Anlagen Polyethylen aus dem Pflanzensprit gewinnen – und damit den Grundstein legen für neue Chemiestandorte. Hier kann dann der biobasierte Rohstoff zu allen erdenklichen Kunststoffen weiterverarbeitet werden.
Anfangs werden einzelne „grüne“ Module an bestehende Erdölraffinerien andocken
Karin Bronnenmeier beschäftigt sich als Know-how Managerin für Biotechnologieanlagen der Linde-KCA-Dresden GmbH mit dem Übergang von der Erdöl- zur Bioraffinerie. In diesem Geschäftszweig wächst Know-how aus Chemie- und Gasanlagen sowie Biotechnologischen Großprojekten zusammen. „Genau diese Integration von Chemie und Biotechnologie ist die zentrale Idee von Bioraffinerien“, erklärt sie. Die Expertin geht davon aus, dass anfangs nur einzelne „grüne“ Module an bestehende Erdölraffinerien andocken und kleinere pflanzliche Zuflüsse zum großen petrochemischen Stoffstrom liefern werden. „Später lässt sich dann die pflanzliche Rohstoffbasis schrittweise ausweiten“, so Bronnenmeier. Der Ausstieg aus der Petrochemie verläuft ihrer Prognose nach schleichend.
Nach dem beschriebenen Muster laufen aktuell die Planungen der ersten Pilotanlagen. In Leuna will ein Konsortium aus 23 Betrieben sowie 15 Unis und zwei Fraunhofer-Instituten Verfahren zur Reife bringen, um die bisher fossile Rohstoffbasis des Chemiestandortes um Stroh, Holz, Mikroalgen und andere Biomasse zu erweitern. Was im Labor schon klappt, soll das Chemisch-Biotechnologische Prozesszentrum (CBP) auf Industriemaßstab skalieren. Insgesamt sollen unter Leitung der Linde KCA bis 2011 sieben Prozessanlagen entstehen. Herzstück ist eine Lignocellulose-Bioraffinerie. Darin sollen spezielle Enzyme die eingehende Biomasse in ihre wertvollen Einzelteile zerlegen.
Feste Biomassen bestehen zu 75 % aus Kohlehydraten, die in Cellulose-Komplexen gebunden sind. 20 % ist Lignin. Und in den restlichen 5 % verbergen sich vor allem Öle und Proteine. Die Enzyme sollen die Cellulose aufbrechen und den darin gebundenen Zucker zur Herstellung von Ethanol, Ethylen oder Milch-, Essig- und Bernsteinsäure nutzbar machen. Zusätzlich hoffen die Forscher, die fest verschlossene Schatztruhe des Lignins zu öffnen, deren chemische Bestandteile als Basis für Vanilin, Phenole, Benzol oder Polymere taugen. Auch die Zucker der sogenannten Hemicellulosen sind von Interesse, um Furfurale zur Nylonherstellung oder Xylit für Pharmazeutika zu erzeugen. Und nicht zuletzt sollen auch Fette, Öle und andere Extrakte genutzt werden.
Was dann noch übrig bleibt, taugt wahlweise als Substrat für Biogasanlagen, Fasern, Dünger oder zur thermischen Vergasung. Das entstehende Synthesegas ließe sich unter anderem zu Biokraftstoffen der 2. Generation verarbeiten. „Dafür wäre es von Vorteil, wenn die Zucker und Mineralien gar nicht erst mit in den Prozess kommen“, erklärt Birgit Kamm. Die Wissenschaftlerin ist Vordenkerin eines zweiten Bioraffinerie-Konzepts, das ebenfalls mit staatlicher Förderung von Linde KCA gebaut wird.
Grassaft wird zu Futtermittel – und zu Chemierohstoffen
Auch die Demonstrationsanlage in havelländischen Selbelang dockt an bestehende Strukturen an. Allerdings sucht Kamms „Grüne Bioraffinerie“ die Nähe zur Landwirtschaft. „Wir bauen an ein Futtermittel-Trocknungswerk an“, erklärt sie. Denn dorthin würden Landwirte die nötigen Rohstoffe wie Gras, Klee und Luzerne sowieso anliefern. Das Werk trocknet und pelletiert sie. Die Bioraffinerie klinkt sich in den Ablauf ein, indem sie die Pflanzen vor dem Trocknen in einer Schneckenpresse entsaftet. Der Presskuchen bleibt als Futtermittel nutzbar und lässt sich mit viel weniger Wärmeaufwand trocknen. Noch wichtiger ist aber der Presssaft, den das Team um Kamm in mehreren patentierten Verfahrensstufen zu Chemierohstoffen und Hochleistungsfuttermittel verarbeiten will.
Luzerne und Klee haben das Zeug, Basispolymere in der Kosmetikindustrie zu ersetzen
„Der Saft enthält Proteine, Farbstoffe, Vitamine, Mineralien und lösliche Zucker“, erklärt die Professorin. Ihr Fokus liegt auf den Eiweißen. Grüne Proteine sollen thermisch aus dem Saft gelöst und zu Tierfutter verarbeitet werden. Weil es mehr Nährstoffe enthält als Sojaschrot, könnten es Importe ersetzen. In einer weiteren Ausbaustufe will das Team per Fermentation Plattformchemikalien wie Milchsäure und Lysin aus den grünen Proteinen erzeugen.
Daneben enthält gerade der Saft von Luzernen und Klee reichlich Weiße Proteine. Auf diese haben es die Brandenburger besonders abgesehen. „Wir planen, aus dem Eingang von 20 000 t Grünlandbiomasse jährlich 1,3 t hochwertiger Weißer Proteine zu erzeugen“, so Kamm. Der Marktpreis solcher Proteine, mit der die Kosmetikindustrie Basispolymere ersetze, liege bei 10 €/kg. Um das wertvolle Gut zu lösen, erwärmen die Chemiker den Saft kontrolliert und filtrieren ihn anschließend in Membranen. Nach abschließender Sprühtrocknung bleiben die Proteine als weißes Pulver übrig.
„Unser Konzept zielt darauf ab, die Grünstoffe abfallfrei und unter Verwendung von Abwärme der Trockenanlage in verschiedene Produkte umzuwandeln“, so Kamm. Selbst den übrigen Saft soll eine benachbarte Biogasanlage nutzen. Die Professorin sieht großes Potenzial für ihren Ansatz. „Wegen des landwirtschaftlichen Strukturwandels gibt es in der EU ein großes Überangebot an Grünlandbiomasse“, erläutert sie. Und allein in Deutschland gebe es 72 Grüngut-Trocknungswerke, die durch das Andocken „Grüner Bioraffinerien“ sehr viel Energie sparen und sich zudem zu Rohstofflieferanten der Chemischen Industrie entwickeln könnten.
Genau das ist das Ziel. Neue Produkte, mehr CO2-arme Energie und heimische Absicherung der Rohstoffversorgung. Und weil die stoffliche einer anschließenden energetischen Nutzung der Biomasse nicht im Wege steht, wird die CO2-Effizienz von Bioraffinerien kaum schlagbar sein. Dieser Aspekt ist Uwe Lahl, der bis zum Regierungswechsel im Umweltministerium für die Förderung der Technologie verantwortlich war, bei der Diskussion um Biokraftstoffe zu kurz gekommen. „Kraftstoff- und Chemiesektor waren bisher eng verzahnt und werden es in Zukunft bleiben“, sagt er. Eine getrennte Effizienzbetrachtung der beiden Sektoren mache keinen Sinn. Der Experte ist überzeugt, dass der anstehende „Ölwechsel“ mit Bioraffinerien gelingen kann – ganz gleich, ob es in 30, 45 oder 50 Jahren nötig sein wird.
PETER TRECHOW
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