Das Gesicht der Erde entdecken
Er ist Pilot. Und schreibt gerade an seiner Diplomarbeit. Am Anfang war ein Traum. Der Traum vieler Jungen: Pilot. Der Wunsch erfüllt sich jedoch in den seltensten Fällen und wenn, dann an der Verkehrsfliegerschule der Lufthansa in Bremen. Die Schule feiert gerade den Abschluss des 300-sten Lehrgangs für sogenannte Nachwuchsflugzeugführer.
Hier haben seit der Gründung im Mai 1956 tausende Flugschüler gebüffelt. Mancher ist an der anspruchsvollen Ausbildung gescheitert, die meisten dürfen aber über den Wolken schweben. Zu den glücklichen Absolventen gehört Claudio Endrizzi aus Niddatal bei Frankfurt. Der 27-Jährige fliegt von seiner Heimat aus, der Verkehrsdrehscheibe Europas, in die ganze Welt.
Der junge Pilot steuert für die Lufthansa-Touristiktochter Condor Traumziele an: Antalya, Teneriffa, Karibik. Endrizzi weiß um das verzerrte Berufsbild von Palmen, schönen Frauen und glanzvoller Männlichkeit, legt aber keinen Wert auf den Glitzerstatus: „Mich reizt die Vielfältigkeit des Berufes, die Zusammenarbeit mit den vielen Menschen an Bord und am Boden, die Koordination verschiedener Arbeitsabläufe unter Zeitdruck. Es geht vor allem um das schnelle Abwägen vieler Fakten.“
Das klingt zielgerichtet – und tatsächlich charakterisiert es den smarten Flieger auch. Endrizzi hat lange auf sein Ziel hingearbietet. Der Sohn eines Bergbauingenieurs baut bereits als kleiner Junge gerne Modellflugzeuge zusammen und lernt als Jugendlicher das Segelfliegen. Nach dem Abitur erwägt er die militärische Ausbildung zum Marineflieger, nimmt aber während seiner Wehrdienstzeit Abstand von der Idee. Stattdessen denkt er über ein Studium der Luft- und Raumfahrttechnik in München nach. Doch es kommt anders: Im Herbst 1995 macht ihn ein Freund auf die Verkehrsfliegerschule in Bremen aufmerksam. Da ist der Anmeldetermin für den ersten Jahrgang, der sich gleichzeitig zum Flugzeugführer und Ingenieur für Luftfahrtsystemtechnik ausbilden lässt, aber bereits verpasst. Endrizzi überbrückt die Zeit bis zum nächsten Termin und startet im Oktober 1996. Der straffe Lehrplan beginnt zunächst mit dem theoretischen Maschinenbau-Unterricht an der Hochschule Bremen, mit Mathematik, Statik und Mechanik. Im vierten Semester kommen Vorlesungen an der Verkehrsfliegerschule hinzu: Flugantriebe, Aerodynamik, Meteorologie und Navigation.
Die Studenten lernen an kleinen Flugzeugmodellen, simulieren Luftströmungen im Labor, bauen in einer Werkstatt Elektromotoren nach und schauen den Wartungstechnikern der Fluglinien über die Schulter. Mit den Grundlagen und dem Wechsel „wöchentlich drei Tage an der Hochschule und zwei Tage an der Fliegerschule“, so Endrizzi, kommt auch Bewegung in die Fliegerei. Nach und nach werden die „Privatpilotenlizenz“ (PPL) die „Commercial Pilot Licence“ (CPL) und schließlich die „Airline Transport Pilot Licence“ (ATPL) erworben – auch hier steht am Anfang natürlich viel Theorie.
Am Ende des 5. Semesters spürt Endrizzi erstmals richtige Unruhe im Kurs: „Wir brannten darauf, zu fliegen.“Die Mienen heitern sich auf, auch weil der eigentliche Praxisteil im sonnigen US-Staat Arizona absolviert wird. Und das neun Monate lang. Arizona ist so groß wie die Bundesrepublik, hat aber nur einen Bruchteil an Einwohnern – hier bieten sich wesentlich mehr fliegerische Freiheiten als im dichten Luftverkehr Europas. Nach einigen Stunden im Flugsimulator sitzen die Nachwuchsschüler plötzlich am Steuerhorn einer Beechcraft „Bonanza B33/A“. „Das ist schon ein sehr komplexes Flugzeug“, so Endrizzi. Kurz darauf wechselt er in einen zweimotorigen Flieger vom Typ Beechcraft „Baron B58“ und später in die Turboprop-Maschine „Cheyenne PA 42“.
Nach der flugtechnischen Praxis geht es im 8. Semester wieder zur Theorie nach Bremen. Neben Technik steht nun auch Luftfahrtrecht auf dem Stundenplan. „Es ist sehr wichtig, das rechtliche Umfeld für die eigene Tätigkeit zu kennen. Dabei geht es z.B. darum, wer bei Problemen mit dem Be- oder Entladen zuständig ist“, erläutert Endrizzi.
Das ist aber nicht alles. Zusätzlich zur Pilotenausbildung stehen die Prüfungen zum Diplomingenieur an. „Das sollte mein zweites Standbein sein. Es gab schließlich keine Garantie, sofort als Pilot übernommen zu werden“, erinnert Endrizzi. Im Gegenteil: Der Flugschüler ist zunächst mit einem Haufen Schulden konfrontiert. Einen großen Teil der Ausbildungskosten fordert die Lufthansa langfristig zurück.
Diese Sorgen zerschlagen sich jedoch schnell. Kaum halten Endrizzi und seine fliegenden Kommilitonen den Luftfahrtschein in der Hand, kommen sie alle im Lufthansa-Konzern unter. Nach Einweisungen, Prüfungsflügen und erneutem Simulatortraining steigt der Nachwuchs schließlich als 1. Offizier – sprich: als Co-Pilot – ins Cockpit der großen Passagierflugzeuge wie Boeing 757 oder 767. Unmittelbar nach Endrizzis Probezeit kommt es zu einem dramatischen Moment in seiner jungen beruflichen Laufbahn: Der Terror vom 11. September 2001 führt zu Verunsicherung. „Welche Folgen haben die Attentate, gibt es Krieg, was bringt die berufliche Zukunft?“, fragen sich der Absolvent und seine Kollegen.
Hinter der mittlerweile verriegelten Cockpittür beschleichen Endrizzi auch mulmige Gefühle, wenn ehemalige Kriegsschauplätze wie Jugoslawien überflogen werden. Doch dann besinnt er sich schnell auf den eigentlichen Reiz des Fliegens: „Täglich auf 30 000 Fuß aufsteigen und dann die Welt anders, vor allem friedlich, erleben.“ Oder mit den Worten seines Vorbildes Antoine de Saint-Exupéry, dem legendären Abenteurer und Autor des „Kleinen Prinzen“, ausgedrückt, „das wahre Gesicht der Erde entdecken.“
ARND WESTERDORF
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