Die Lebenserwartung in Deutschland wird zu hoch angesetzt
Die Lebenserwartung in Deutschland steigt – am stärksten für die Bezieher hoher Einkommen. Nach Ansicht des Statistikers Gerd Bosbach sind solche Daten aber mit Vorsicht zu genießen. So werde die Lebenserwartung um rund drei Jahre überschätzt. Bosbach ist auch nicht sicher, ob sie künftig auch für alle Bevölkerungsgruppen zunehmen wird.
Bei der Zuschussrente lässt Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen nicht locker. „Am Namen hänge ich nicht, aber am Prinzip“, sagte die CDU-Politikerin auf dem Kongress der Christlich-demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) Anfang der Woche in Berlin.
Mit der Zuschussrente sollen Geringverdiener, die lange in die Sozialversicherung eingezahlt haben, unter bestimmten Bedingungen Geld vom Staat bekommen, um nicht auf die Grundsicherung angewiesen und vor Armut geschützt zu sein.
Altersarmut ließe sich aber auch anders verringern, meint der Ökonom Friedrich Breyer von der Universität Konstanz. Er plädiert für eine Umverteilung innerhalb des Rentensystems, von der die Bezieher niedriger Renten profitieren würden – zu Lasten der Empfänger höherer Renten.
Ausgangspunkt für Breyer ist die Tatsache, dass Arbeitnehmer mit einem höheren Einkommen länger leben und damit auch länger ihre Rente ausbezahlt bekommen als Arbeitnehmer, die nur wenig verdienen. Über die längere Lebensdauer werde zugunsten der Gutverdiener umverteilt.
Um diese Umverteilung abzubauen, plädiert Breyer dafür, die Renten von Gutverdienern nur noch unterproportional im Verhältnis zu deren Einkommen steigen zu lassen, die der weniger gut Verdienenden dagegen sollten überproportional wachsen – ein Effekt, den es in den Rentsystemen der Schweiz und der USA gebe.
Von einem Ausgleich der Lebenserwartungen durch die Rentenhöhe hält Martin Kroh, Ökonom beim Sozio-Ökonomischen Panel am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) nichts. Eine Differenzierung von Rentenleistungen nach Risiken widerspreche „der Grundphilosophie der gesetzlichen Rentenversicherung“. Er empfiehlt stattdessen Maßnahmen, um die Lebenserwartung von Beziehern geringer Einkommen auf den Stand der Gutverdiener zu erhöhen. Dazu gehören, so Kroh, „der Ausbau der betrieblichen Gesundheitsförderung“ und „gesundheitliche Präventionsmaßnahmen“, die Geringgebildete besser einbeziehen als bisher. Kroh hat jetzt, zusammen mit Forschern des Robert-Koch-Instituts (RKI) in Berlin eine Untersuchung vorgelegt, die den Zusammenhang von Einkommen und Lebenserwartung für die Zeit von 1984 bis 2010 belegt.
Lebenswerwartung: Wohlhabende Männer leben 5 Jahre länger
So gleichmäßig bei allen Bevölkerungsgruppen, wie es oft den Anschein hat, steigt die Lebenserwartung aber nicht. Denn Männer ab 65 Jahren und aus wohlhabenden Haushalten leben fünf Jahre länger als Männer aus armutsgefährdeten Haushalten und aus Haushalten mit prekärem Einkommen. Bei Frauen ist der Unterschied geringer: Wohlhabende leben „nur“ dreieinhalb Jahre länger als armutsgefährdete.
Zu den Einkommen zählen Gehälter, Renten, Pensionen, Sozialleistungen und Kapitaleinkünfte, Steuern und Sozialabgaben sind abgezogen. Die Einkommen werden gewichtet nach der Zahl der Haushaltsmitglieder. Haushalte mit mehr als 150 % des Medianeinkommens sind wohlhabend, zwischen 80 % und 150 % liegen die mittleren Einkommen, zwischen 80 % und 60 % liegen die prekären Einkommen. Wer weniger als 60 % des Medianeinkommens verdient, gilt als armutsgefährdet. Der Median ist der mittlere Wert, d. h. die eine Hälfte der Einkommen liegt über, die andere unter diesem Wert. Mitte der 80er-Jahre lag der Median, nicht inflationsbereinigt, bei 800 € im Monat, 2010 bei 1350 €.
Allerdings gibt DIW-Forscher Kroh zu bedenken, dass es sich bei der Korrelation von Lebenserwartung und Einkommen nur um einen, wenn auch deutlichen, statistischen Zusammenhang handelt, nicht aber um eine kausale Erklärung. Das heißt: Es spielen noch andere Gründe als das Einkommen eine Rolle, wenn Menschen länger leben. Dazu gehören vor allem Bildung, Einflüsse des Elternhauses, berufliche Belastungen, ökonomische Unsicherheit, soziale Netzwerke.
Die Schere zwischen Einkommen und Lebenserwartung bezieht sich zwar auf Deutschland, doch auch in den USA zeichnet sich eine ähnliche Entwicklung ab. Dort ist zwischen 1986 und 2006 die fernere Lebenserwartung von 65-jährigen Männern, deren Einkommen auf der unteren Hälfte der Einkommenskala liegt, um knapp ein Jahr gestiegen. Dagegen hat sich die Lebenserwartung der älteren Männer mit einem Einkommen in der oberen Hälfte der Einkommenskala um fünf Jahre verlängert. Das zeigt eine Studie der US-Social Security Administration.
Aus einer Untersuchung des Chicagoer Epidemiologen S. Jay Olshansky geht hervor, dass in den USA die Lebenserwartung z. Z. sogar zurück geht, z. B. bei schlecht ausgebildeten weißen Frauen. Deren Lebenserwartung ist im Vergleich zu 1990 um fünf Jahre gesunken – von 78 auf 73 Jahre. Umgekehrt steigt die Lebenserwartung hoch Qualifizierter mit anspruchsvollem Beruf. Olshansky spricht daher beim Thema Lebenserwartung von „zwei Amerikas“.
Daten über die Lebenserwartung sind mit Vorsicht zu genießen
Doch wie andere Statistiken seien auch Daten über die Lebenserwartung mit Vorsicht zu genießen – zumindest in Deutschland, warnt Gerd Bosbach, Professor für Statistik an der Hochschule Koblenz. Sie würden bisweilen „unzulässige Gewissheiten“ vortäuschen.
Bosbach nennt Beispiele: So werde die Einwohnerzahl in Deutschland in einer Größenordnung von mindestens 2 % zu hoch angesetzt. Bei amtlich festgestellten 81,8 Mio. Einwohnern wäre das eine Überzeichnung von mehr als 1,6 Mio. Einwohnern. Die Ursache seien unbereinigte Melderegister in den Kommunen, weil viele sich beim Wegzug nicht abmeldeten. Erst seit 2005 muss bei der Anmeldung an einem neuen Wohnort auch die Abmeldung vorliegen. Die Fehler, die sich in den Jahrzehnten zuvor eingeschlichen haben, würden aber noch viele Jahre mitgeschleppt.
Solche „Karteileichen“ seien auch die Ursache, dass die Zahl der Einwohner, die älter als 90 Jahre sind, in der amtlichen Statistik weit überschätzt würde, sagen Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock. In den alten Bundesländern sei diese Zahl bei Männern um 40 %, bei Frauen um rund 15 % zu hoch angesetzt. Mit wachsendem Abstand zu den Zensuserhebungen, die letzte gab es in der Bundesrepublik 1987, würden die Bevölkerungsschätzungen immer ungenauer. Doch die Einwohnerzahl hat Folgen – für die Ermittlung der Sterberate und die Berechnung der Lebenserwartung, sagt Bosbach.
Denn die Sterberate wird ermittelt aus dem Verhältnis zwischen der Zahl der Gestorbenen und der Gesamtbevölkerung. Wird die Einwohnerzahl überschätzt, erscheint die Sterberate niedriger als sie in Wirklichkeit ist. Und eine höhere Sterberate senkt zwangsläufig die Lebenserwartung. Fachleute wie Bosbach gehen davon aus, dass die amtlichen Berechnungen der Lebenserwartung in Deutschland um bis zu drei Jahre nach unten korrigiert werden müsse.
Ob alle gesellschaftlichen Schichten mit höheren Lebenserwartung rechnen können ist ungewiss
Das Dilemma bei der Bestimmung der Lebenserwartung sieht Bosbach in der Fortschreibung von Entwicklungen, die abgeschlossen sind und die nicht ohne Weiteres in die Zukunft hinein verlängert werden könnten. In der Vergangenheit hätten bessere Ernährung, bessere Gesundheitsversorgung und Arbeitsbedingungen entscheidend zur Verlängerung des Lebens beigetragen.
Deshalb ist sich der Statistiker unsicher, ob alle gesellschaftlichen Schichten auch künftig mit einem Zugewinn an Lebenserwartung rechnen können. Dagegen spreche die steigende Armut, verbunden mit schlechterem Ernährungsverhalten und schlechterer Gesundheitsversorgung. Für eine steigende Lebenserwartung spreche nur der frühere Trend.
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