Fachkraft mit Schwerbehinderung
Unternehmen mit mehr als 20 Mitarbeitern müssen Schwerbehinderte beschäftigen. Doch viele Firmen zahlen lieber eine Ausgleichsabgabe. Das ist schade, denn sie verpassen im Zeitalter des viel beschworenen Fachkräftemangels beispielsweise solche kompetenten Mitarbeiter wie die Wirtschaftsinformatikerin Christina Ziegler.
Christina Ziegler ist kein Mensch, der jammert. „Ich habe keinen Kontakt zu anderen Schwerbehinderten, die ihren Kopf in den Sand stecken, sich bedauern und bemitleiden lassen.“ Ihre Bekannten mit Behinderung haben einen Job. Christina Ziegler wurde mit einer Fehlbildung an vier Gliedmaßen geboren. Dysmelie an vier Extremitäten, haben die Ärzte zur Mutter gesagt, als Christina vor 24 Jahren in Stuttgart geboren wurde. Warum ihre Tochter mit zwei kurzen Armstümpfen, ohne rechtes Bein und mit einem fehlgebildeten linken Bein auf die Welt kam, konnte der zunächst verzweifelten Mutter niemand sagen.
Heute ist das Herz der Mutter voller Stolz, wenn ihre Tochter morgens auf das Brett mit Rollen steigt – eine Art Skateboard mit Sitz. Mit dem linken Bein, an dem einige Knochen und ein Zeh fehlen, schiebt sie ihr ungewöhnliches Fahrzeug an, Richtung S-Bahn, dann geht es mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit. Wenn sie bei ihrem Freund war, fährt sie mit dem eigenen Auto, einem behindertengerecht umgebauten Fahrzeug.
Bei der Allianz, ihrem Arbeitgeber, mussten lediglich die Knöpfe im Fahrstuhl tiefer gesetzt werden, damit sie ihren Arbeitsplatz erreicht. Im Büro sitzt sie auf einem höhenverstellbaren Tisch, hält das Telefon mit ihren vier Zehen, bedient damit die Maus, macht sich Notizen oder tippt in die Tastatur. Für Christina Ziegler ist das ganz normal.
Die junge Frau hat nach dem Abitur Wirtschaftsinformatik an der Berufsakademie Stuttgart studiert. Ihr Ausbildungsbetrieb war schon die Allianz. Im Oktober 2008 hat sie ihr Studium abgeschlossen und wurde übernommen. Seitdem kümmert sie sich um Beratungssoftware für den Außendienst. „Wir sind die Schnittstelle zwischen Programmierern und Anwendern“, beschreibt sie ihren Job. Den macht sie nach Auskunft ihres Vorgesetzten mindestens ebenso gut wie alle anderen, ist gleich schnell und nicht häufiger krank. Christina Ziegler ist ein Beispiel dafür, dass schwerbehinderte Menschen selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen können. Von Gesetzes wegen sind ihnen 5 % aller Arbeitsplätze in Deutschland vorbehalten. Soweit die Theorie.
Die Praxis sieht häufig ganz anders aus. Alle privaten und öffentlichen Arbeitgeber mit mindestens 20 Arbeitnehmern sind verpflichtet, Schwerbehinderte zu beschäftigen. In diesen Betrieben müssen 5 % der Arbeitsplätze mit Schwerbehinderten besetzt sein. Eine Schwerbehinderung liegt bei über 50 Grad körperlicher, geistiger oder psychischer Beeinträchtigung vor. „Rund 135 000 Betriebe müssen Schwerbehinderte einstellen, davon haben 38 000 keinen einzigen“, weiß Dorothee Czennia, Referentin Sozialpolitik im Sozialverband VdK Deutschland in Bonn.
Firmen, die die Fünf-Prozent-Quote nicht erfüllen, müssen eine Ausgleichsabgabe zwischen 105 ‹ und 290 ‹ je Monat und unbesetztem Pflichtarbeitsplatz zahlen. „Viele Arbeitgeber bevorzugen es, sich freizukaufen, wobei die Ausgleichsabgabe keine freiwillige Zahlung ist, die eine Firma der Beschäftigung Schwerbehinderter vorziehen kann“, so Czennia. Doch im Alltag wird danach verfahren.
In jedem Frühjahr müssen alle Unternehmen der Bundesagentur für Arbeit melden, ob und wie viele Schwerbehinderte sie beschäftigen. Laut Mikrozensus des Statistischen Bundesamts gab es 2007 in Deutschland fast 7 Mio. Schwerbehinderte. Knapp die Hälfte davon ist im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 65 Jahren. Nach dem Behindertenbericht der Bundesregierung lag die Quote der beschäftigten Schwerbehinderten bei 4,4 %. Rein rechnerisch haben also von den rund 38 Mio. Arbeitnehmern in Deutschland etwa 1,7 Mio. Schwerbehinderte Arbeit, 5,3 Mio. nicht. Unternehmen, die keine oder nicht gerne Menschen mit Handicap beschäftigen, wollen das nicht in die Öffentlichkeit bringen, es könnte ja dem Image schaden.
Der Automobilbauer BMW legt seine Karten offen auf den Tisch, die Firma hat nichts zu verheimlichen und liegt mit 5,4 % über der gesetzlich vorgeschriebenen Quote. Tendenz: seit Jahren leicht steigend. Doch nicht alle der 5,4 % arbeiten bei BMW, denn die Quote kann auch dadurch erfüllt werden, indem die Firmen mit Behinderteneinrichtungen zusammenarbeiten und dorthin einen Teil ihrer Arbeit austragen. Im Falle BMW ist das beispielsweise die Stiftung Pfennigparade in München, die IT-Aufträge bekommt.
Die Allianz bringt es auf insgesamt 4,1 %. Im Innendienst sind es mehr, im Außendienst weniger. „Unsere Vertriebsmitarbeiter sind viel unterwegs, für Schwerbehinderte stellt das eine zusätzliche Belastung dar“, begründet Claudia Pfeifer, Leiterin Grundsatz und Vergütung im Personalbereich des Versicherungskonzerns in München. Auch bei der Allianz steigt die Quote, von 3,4 % im Jahr 2006 auf 4,1 % aktuell. Und das Unternehmen beschäftigt einige ähnlich Schwerbehinderte, wie Christina Ziegler: Querschnittsgelähmte sowie Blinde. „Zum Teil haben sie ihre Schwerbehinderung erlitten, als sie schon bei uns gearbeitet haben, etwa durch einen Unfall. Andere haben wir mit ihrer Erkrankung eingestellt, wie Frau Ziegler“, so Pfeifer. Die 5 %-Hürde will die Allianz in den nächsten Jahren schaffen.
„Das Gesetz macht es für uns Schwerbehinderte einfacher, an einen Arbeitsplatz zu kommen“, sagt Christina Ziegler. Und Dorothee Czennia vom VdK fordert, dass behinderte Kinder die Regelschule besuchen und Förderschulen nur in begründeten Ausnahmefällen. Denn: „Eine wichtige Grundlage für das gleichberechtigte Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung dient dem Abbau von Vorurteilen.“ Je früher man damit beginnt, desto leichter lassen sich Barrieren in den Köpfen überwinden. Christina Ziegler war in einem ganz normalen Kindergarten und hat ihr Abitur an einer ganz normalen Schule gemacht. PETER ILG
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