Flassbeck: In Deutschland müssen die Löhne zehn Jahre lang stark steigen
Deutschland diktiere anderen EU-Staaten eine eiserne Kürzungspolitik und entziehe sich so seine eigene Wachstumsgrundlage. Davon ist der Ökonom Heiner Flassbeck überzeugt. Frankreich habe sich an die wichtigste Regel einer Währungsunion gehalten: An das Inflationsziel von rund 2 %. Deutschland habe mit seiner Lohnpolitik diese Marke deutlich unterschritten und damit die Krise verschärft. Und fordert steigende Löhne in Deutschland.
Die Löhne in Deutschland müssten zehn Jahre lang stark steigen, um Deutschlands große Produktivitätsvorteile gegenüber den südlichen Euro-Ländern und Frankreich abzubauen. Sollte Deutschland seine Nachbarn wirtschaftlich weiter schwächen, werde darunter künftig auch der deutsche Export leiden. Diese Thesen vertritt der Ökonom Heiner Flassbeck, bis Ende Dezember 2012 Direktor der UN-Organisation für Welthandel und Entwicklung (Unctad), in einem Interview mit den VDI nachrichten.
„Um es klar zu sagen, die Probleme unseres Nachbarn sind in erster Linie auf die Lohnzurückhaltung Deutschlands zurückzuführen“, urteilt Flassbeck. „Die Produktivität bei unseren Nachbarn ist nicht schlechter. … Der Vorsprung Deutschlands war eindeutig die Folge der Lohnzurückhaltung, nicht höherer Produktivität.“ Deshalb ist Flassbeck enttäuscht, dass sich Frankreichs neuer Präsident Francois Hollande nicht stärker gegen die deutsche Sparpolitik gewehrt habe. „Hollande hat sich über den Tisch ziehen lassen und redet jetzt von Lohnzurückhaltung und Steuersenkung. Das ist ganz klar ein Zugeständnis an die deutsche Dominanz.“
Der deutsche Kurs, den Krisenländern Lohnkürzungen zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und gleichzeitig Schuldenabbau zuzumuten, sei auch aus deutscher Sicht falsch. „Diese Länder haben einen Exportanteil von nur 25 % – mit der Senkung der Löhne brechen aber die 75 % Binnennachfrage zusammen. Diese Länder gehen dann in die Knie“, so Flassbeck. „Die 25 % Exportanteil können die 75 % Binnennachfrage nicht retten“, wie man an Griechenland und Portugal sehe. Diese Länder fielen als Nachfrager für deutsche Produkte aus.
Das passiere auch mit Frankreich, wenn sich Hollande nicht stärker gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel durchsetze. Gefordert seien jetzt Lohnerhöhungen in Deutschland. „In Deutschland müssen die Löhne in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren viel stärker steigen, wenn Europa nicht in eine deflationäre Falle laufen soll“, so Flassbeck. „Aber jetzt gehen wir den dümmsten Weg, den es gibt. An den Zuständen in Frankreich wird das nichts ändern. Die Franzosen haben die Auseinandersetzung gescheut. Da fehlte die letzte Konsequenz. Als Resultat wird die Rezession sich verschärfen. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Leute auf die Straße gehen.“
Hier liesen Sie das Interview im Wortlaut: VDI nachrichten: Herr Flassbeck, spart Europa sich zu Tode?
Flassbeck: Es ist nicht falsch zu sagen, Europa spart sich zu Tode. Die lange Rezession ist nicht gottgegeben, sondern Folge der Politik – und zwar einer vollkommen falschen Politik. Wir verordnen Ländern, die Schwierigkeiten haben – wie beispielsweise den südeuropäischen Ländern – eine zweifache Rosskur. Wir sagen, sie müssen fiskalisch alles tun, um das Defizit niedrig zu halten und sie müssen ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Doch es ist unglaublich schwer, das durchzuhalten, weil wir aus einer schweren Rezession kommen und gerade wieder in eine Rezession gehen.
Deutschland verordnet die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit. Das heißt konkret, es verlangt eine Lohnsenkung, um die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Aber diese Länder haben einen Exportanteil von nur 25 % – mit der Senkung der Löhne brechen aber die 75 % Binnennachfrage zusammen. Diese Länder gehen dann in die Knie. Das können wir zurzeit in Griechenland und Portugal bewundern. Klar ist: Die 25 % Exportanteil können die 75 % Binnennachfrage nicht retten. Was dann droht, ist die politische Unvorhersehbarkeit. Die Menschen wissen vor Verzweiflung nicht mehr, was sie wählen sollen. Da droht ein Abrutschen ins Extreme. In Italien sehen wir das schon. In Frankreich wird es noch kommen.
Frankreich weist gegenüber Deutschland eine große Lücke in der Wettbewerbsfähigkeit auf. Diese Diagnose ist richtig. Aber es ist falsch zu folgern, dass in Frankreich deswegen die Löhne sinken sollten. Richtig ist, dass Deutschland die Löhne erhöhen muss. Denn die jetzt von der Politik in Brüssel und Berlin diktierten Rezepte haben schon in eine Rezession geführt.
Frankreich hat von Beginn an fast alles richtig gemacht. Die wichtigste Regel war und ist nämlich in einer Währungsunion, sich an das gemeinsam vereinbarte Ziel für die Inflationsrate zu halten. Die sollte stets bei rund 2 % liegen. Das bedeutet, dass man sich mit seinen Lohnstückkosten (also Löhne in Relation zur Produktivität) – die die Inflationsrate nun einmal in erster Linie bestimmen – möglichst gut an das Ziel anpasst. Ich weiß nicht, wie Frankreich das hinbekommen hat, es hat aber geklappt. Deutschland ist weit unter dieser Norm geblieben, Südeuropa blieb darüber. Deutschland hat seine Löhne kaum erhöht. Deshalb ist Frankreich in Schwierigkeiten.
Um es klar zu sagen, die Probleme unseres Nachbarn sind in erster Linie auf die Lohnzurückhaltung Deutschlands zurückzuführen. Die Produktivität bei unseren Nachbarn ist nicht schlechter. Die wichtige Regel für eine Währungsunion ist, dass sich jeder an die eigene Produktivität anzupassen hat, nicht an die Produktivität der anderen Länder – auch nicht an die Produktivität Deutschlands. Der Vorsprung Deutschlands war eindeutig die Folge der Lohnzurückhaltung, nicht höherer Produktivität.
Dieses Problem gibt es schon lange. Das ist sicher ein strukturelles Problem. Es verschlimmert sich aber mit der Rezession. Das ist jetzt die zweite Rezession in vier Jahren. Da können sie solche Probleme nicht mehr lösen. Und die Arbeitslosigkeit der Jugendlichen steigt weiter.
Er hätte sie vielleicht gehabt, wenn er das gemacht hätte, was er im Wahlkampf gesagt hat. Hollande hat sich aber über den Tisch ziehen lassen und redet jetzt von Lohnzurückhaltung und Steuersenkung. Das ist ganz klar ein Zugeständnis an die deutsche Dominanz.
Der hat was von mir gelernt! Natürlich hat er recht. Wir machen Standortwettbewerb gegen unsere Kunden. Die Kunden der deutschen Exporteure – Spanien, Portugal, Italien und auch eines Tages Frankreich – sind bei diesem Sparkurs irgendwann nicht mehr in der Lage, deutsche Produkte zu kaufen.
Erstens: Man muss den Austeritätskurs sofort beenden. Schon das Wort Schuldenkrise ist falsch. 2008 gab es eine Schuldenkrise der Banken. Diese ist dann später zur Schuldenkrise der Staaten umbenannt worden, weil man vom Versagen des Finanzsektors ablenken wollte. Man muss die Finanzbranche viel stärker regulieren. Brüssel hat sich nicht gegen die Lobbyisten durchgesetzt. Zweitens muss die Rezeptur für die Eurozone geändert werden. Wir müssen weg von Sparkurs und Lohnsenkungen.
Dazu müsste die Politik in Frankreich sich einen Konflikt mit Deutschland zutrauen und dafür Partner in anderen Ländern suchen. Schon heute sind Spanien, Griechenland und Portugal viel weiter bei Lohnanpassungen – unter großen Opfern. Das können die Franzosen gar nicht so schnell aufholen. Die Schwierigkeiten in Italien und Frankreich nehmen zu, nicht ab. Ich bin enttäuscht von Hollande und seiner Regierung, dass sie so wenig versucht haben, diese Diskussion anzufangen.
In Deutschland redet Frau Merkel neuerdings davon, ja. Das muss man nur umdrehen und fragen, warum das Inflationsziel von 2 % in Deutschland nicht erreicht wurde und warum man jetzt deflationäre Politik machen sollte, das ist nämlich das, was Frau Merkel vorschlägt. In Deutschland müssen die Löhne in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren viel stärker steigen, wenn Europa nicht in eine deflationäre Falle laufen soll. Aber jetzt gehen wir den dümmsten Weg, den es gibt. An den Zuständen in Frankreich wird das nichts ändern. Die Franzosen haben die Auseinandersetzung gescheut. Da fehlte die letzte Konsequenz. Als Resultat wird die Rezession sich verschärfen. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Leute auf die Straße gehen.
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