Perspektive für Ingenieure 15.04.2013, 15:39 Uhr

Hightech aus dem kalten Norden Finnlands

Die nordfinnische Stadt Oulu ist eine der Keimzellen für Hochtechnologie in Finnland. Nachdem Nokia die Mitarbeiterzahl dort massiv reduziert hat, nimmt die Verwaltung den Strukturwandel in Angriff. Entlassene Ingenieure sollen ihr Wissen und ihre Kompetenzen in Neugründungen einbringen, die sich unter anderem auf Umwelttechnologien spezialisiert haben.

Die nordfinnische Stadt Oulu setzt auf Strukturwandel, nachdem Nokia die Mitarbeiterzahl dort massiv reduziert hat. Oulu liegt rund 580 km nördlich von Helsinki. Im Ballungsraum leben etwa 250 000 Menschen.

Die nordfinnische Stadt Oulu setzt auf Strukturwandel, nachdem Nokia die Mitarbeiterzahl dort massiv reduziert hat. Oulu liegt rund 580 km nördlich von Helsinki. Im Ballungsraum leben etwa 250 000 Menschen.

Foto: City of Oulu

Mit aufgerissenen Augen beobachten die Fahrgäste, wie der Busfahrer gleichzeitig mit Navigationsgerät, Handy und iPad hantiert, während an den Fenstern die Schneeberge vorbeiflitzen. Als sich der Fahrer dann auch noch zu der Dame hinter ihm umdreht, um ihr auf dem weißen Tablet mit dem Apfel-Logo etwas zu zeigen, rutschen die Passagiere nervös auf ihren Sitzen hin und her.

Beispiel für gelungenen Strukturwandel

Finnland wird oft als IT-verrücktes Land bezeichnet, und dieser Busfahrer aus Oulu scheint das zu bestätigen. Die nördlichste Großstadt Europas hat gezeigt, wie der Strukturwandel gelingen kann: von einem kleinen Fischerhafen am bottnischen Meerbusen, dessen erstes Exportprodukt der Lachs war, über die Herstellung von Teer und Papier zur Kompetenz auf den Gebieten Telekommunikation und IT.

In der Hafenstadt, deren Häuser blaue, gelbe oder rote Holzfassaden schmücken, drehen sich die Gespräche der Geschäftsleute meist um den Mobilfunkkonzern Nokia. Im Sog von Nokias Erfolg haben sich zahlreiche Softwareentwickler und IT-Spezialisten niedergelassen. So ist innerhalb von 20 Jahren die Einwohnerzahl von rund 93 000 auf knapp 144 000 Menschen gestiegen. Zu den Zuwanderern gehören viele Studenten, Akademiker und Fachkräfte. Mit einem Durchschnittsalter von 34,5 Jahren lebt und arbeitet in dem Ort die jüngste Bevölkerung Finnlands. Die neben der Branchenvielfalt auch die Lebensqualität in Oulu schätzt.

Gerade im Frühling, wenn die Tage länger werden, ist der Marktplatz umstellt von unzähligen Fahrrädern. Im Biergarten, der von Girlanden in ein warmes Licht getaucht wird, kann man ein kühles Getränk am Feierabend genießen. Und im August, wenn die alljährliche Luftgitarren-Weltmeisterschaft ausgetragen wird, gibt es auf dem Marktplatz kein Durchkommen mehr.

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Nokia hat viele Ingenieure entlassen

Für Unruhe in dieser Idylle hat Nokia gesorgt: Während der vergangenen drei Jahre hat das Unternehmen in Oulu 2000 Mitarbeiter entlassen, die meisten davon Ingenieure. Der Schrumpfungsprozess wirkt sich auch auf die Zulieferer und Dienstleister in der Region aus, betroffen sind hier etwa 1000 Menschen.

„Dieses Know-how wollen wir nicht verlieren, sondern für die Gründung neuer Unternehmen und Technologiefelder nutzen“, erklärt Juha Ala-Mursula von Business Oulu. Als verlängerter Arm des Wirtschaftsdezernats hilft seine Institution ortsansässigen Unternehmen Geschäftsmodelle auszuarbeiten und internationale Kooperationen aufzubauen.

Während Ala-Mursula, der früher selbst für Nokia arbeitete, sein Fahrrad durch den Schnee schiebt, schwärmt er von den Vorzügen Oulus. Zu dieser Jahreszeit genießt es der Vater zweier Kinder vor der Arbeit eine Stunde auf der Loipe zu verbringen, die direkt hinter seinem Haus vorbeiführt. Anders als seine Kollegen fährt er aber nicht mit den Skiern ins Stadtzentrum. Denn da er das gut ausgebaute Radwegenetz Oulus schätzt, kommt er bevorzugt mit dem Mountainbike ins Büro.

Chancen im Bereich der Umwelttechnologien

Ebenso wie die finnische Regierung sieht Ala-Mursula Entwicklungschancen für finnische Unternehmen im Bereich der Umwelttechnologien. Hierbei gehe es auch immer um Energie- und Ressourceneffizienz. Ein Gebiet, bei dem Finnland zu den führenden Nationen gehöre, erklärt der Elektroingenieur.

Trotz dieser Tatsache ist in dem Industrieland mit der Fläche Deutschlands und 5,5 Mio. Menschen der Energiehunger nach wie vor groß. So setzten die Finnen neben der Kernenergie auch auf Wasser- und Windkraft sowie auf Biogas bzw. -masse. Die Skandinavier können dabei aus dem Vollen schöpfen: Zwei Drittel des Landes sind von Wäldern bedeckt. Holz ist ein begehrter Rohstoff für die Bau- und Papierbranche, die Abfälle aus der Forstwirtschaft nutzen örtliche Versorger zur Energiegewinnung.

So kippt, wenige Kilometer vom Ouluner Stadtzentrum entfernt, ein Truck Holzhackschnitzel in eines der unterirdischen Vorratslager des Biomasseheizkraftwerks. In einem zweiten Lagerraum ist eine feinkrümelige, braune Masse zu sehen, die etwas streng riecht. „Das ist Torf, unser wichtigster Energielieferant“, klärt Umwelt-Ingenieur Tommi Kantola von der städtischen Gesellschaft Oulun Energia auf, die das Kraftwerk betreibt.

Fast ein Drittel der finnischen Landesfläche wird von Torfboden bedeckt. Daher ist es naheliegend, den Brennstoff zu verwenden. Mit 75 MW elektrischer sowie 150 MW thermischer Leistung steht in Oulu eines der größten Biomasseheizkraftwerke Europas. Es versorgt die Region mit jährlich 1200 GWh Strom und 1400 GWh Wärme. Überschüssiger Strom wird dabei an der skandinavischen Strombörse verkauft.

Flugasche wird zu Granulat aufbereitet

Zu den Rückständen beim Verbrennungsprozess gehört Flugasche. Die Regierung besteuert diese mit 50 €/t. Zwar wird das Material als Zusatz zu Baustoffen oder als Dünger – vorausgesetzt, es ist schadstofffrei – eingesetzt, aber die Gewinne aus dem Verkauf des Reststoffs gleichen die Müllsteuer nicht aus. Deshalb arbeitet der kommunale Energieversorger seit Kurzem mit der 2012 gegründeten Firma Rakeistus zusammen.

Das Start-up bereitet die Flugasche zu Granulat auf. Dies geschieht, indem Papierschlamm, Schlacke und heißes Wasser hinzufügt und das Material anschließend getrocknet, granuliert und in Standard-Packeinheiten gefüllt wird. Da Prozess- und Packeinheit von Rakeistus, auf Deutsch Granulat, mobil sind, kann der Dienstleister das Equipment zur Heizkraftanlage bringen und das Endprodukt vom Entstehungsort direkt zu den Abnehmern transportieren. Das Granulat wirkt als Langzeitdünger.

Da es außerdem Kohlendioxid bindet, verhilft es der Stadt Oulu zu einer besseren Klimabilanz. Das wirkt sich auch finanziell aus: Die Kommune spart Müllsteuer in Höhe von 2,5 Mio. € pro Jahr und erzielt zusätzliche Einnahmen durch den Verkauf eines ehemals lästigen Nebenprodukts.

Die Kooperation zwischen dem öffentlichen Energieversorger und Rakeistus kam aufgrund der Vermittlung des „Centre for Environment and Energy“ (CEE) zustande. Dabei handelt es sich um ein im Jahr 2011 gegründetes Innovationszentrum mit Sitz auf dem Campus der Universität Oulu. „Das CEE vermittelt Kontakte sowie Kooperationen zwischen Forschungsinstitutionen und Firmen und wirbt um Investoren“, erklärt CEE-Leiter Pekka Tervonen. „Erfinder oder kleine Unternehmen ohne eigene Entwicklungsabteilung können sich an uns wenden und ihre Ideen bewerten lassen.“

Neuer Stadtteil entsteht

Eine der Organisationen, die das CEE tragen, ist das VTT Technical Research Centre of Finnland. Beim finnischen Pendant zur Fraunhofer-Gesellschaft sind Forscher auf Gebieten wie Bio-, Informations- und Kommunikationstechnik, Mikroelektronik, Materialwissenschaften oder Gebäudetechnik aktiv.

Wenn es nach dem Willen der Stadtverwaltung geht, sollen Innovationen ebenso zum guten Ruf Oulus beitragen wie die Telekommunikation oder Umwelttechnologien.

Nur 7  km östlich vom Stadtzentrum wird ein neuer Stadtteil entstehen. Auf einem ehemaligen Militärgelände sollen 20 000 Menschen bezahlbare Häuser und Wohnungen beziehen und eine komplett neue Infrastruktur nutzen: Die Neubauten werden die Vorgaben für Null-Energie-Gebäude und damit die strengen gesetzlichen Regelungen erfüllen, die ab dem Jahr 2021 gültig sein werden. Was die Neu-Ouluner erwartet, kann man bereits heute in einem 2-Zimmer-Apartment des VTT Technical Research Centre besichtigen.

Von außen sieht das Nebengebäude der VTT-Zentrale, etwa 5 km im Norden der Stadt gelegen, aus wie ein Plattenbau. Innen schlüpfen, auf Bitten von VTT-Studienleiter Klaus Känsälä, die Besucher vor der Wohnungstür aus ihren Stiefeln – aus Rücksicht auf den Forscher, der dort zu Testzwecken wohnt.

Als die fünf Gäste durch die Diele ins Wohnzimmer laufen, gehen wie durch Zauberhand die auf Knöchelhöhe installierten Wandlampen an und beleuchten das neu verlegte Parkett. Nachdem die Besucher im Wohnzimmer angekommen sind, schalten sich die Deckenlampen ein und rücken eine grau gepolsterte Sitzgruppe vor strahlend weißen Wänden in den Blickpunkt. Während Klaus Känsälä erklärt, dass die Wohnung einen Großteil ihres Energiebedarfs selbst produziert, geht im Wohnzimmer plötzlich das Licht aus. „Das sollte eigentlich nicht passieren“, ärgert sich Känsälä. „Das integrierte Sensorsystem sollte eigentlich die Beleuchtung nur dimmen.“

Im obersten Geschoss, das der Haustechnik vorbehalten ist, wird klar, woher das Apartment seine Energie bezieht: von einem Windrad (5,5 kW), dessen rund 30 m langer Stahlmast hier oben sein Fundament hat, und der Photovoltaikanlage (3,6 kW) auf dem Dach.

Projekt „Wohnen in der Arktis“

Der Bewohner selbst kann sich direkt in seiner Wohnung über den Zustand der Systeme auf dem Dach, den Energieverbrauch seines Haushalts, die Kapazität des Energiespeichers oder den Akku-Zustand seines Elektroautos informieren, das er auf dem Parkplatz vor dem Haus aufladen kann. Möglich machen das ein Interface mit Monitor und eine Software, die alle Daten laufend auswertet. „Wir haben das System so vorbereitet, dass es überschüssige Energie am Strommarkt verkaufen kann“, erläutert Känsälä.

Das Projekt ist nur der Vorgeschmack auf die Zukunft des Wohnens in der Arktis. Im „Arctic Smart City Living Lab“, das ebenfalls auf dem ehemaligen Militärgelände eingerichtet wird, können Unternehmen neue Technologien erproben. Die Gebäude müssen alle den strengen arktischen Bedingungen standhalten, das heißt: Temperaturen von bis zu -30 °C. Dies ist, hoffen die Projektverantwortlichen, ein überragender Beweis für den Baustandard aus dem hohen Norden – und eine Empfehlung für innovative Technologien „made in Oulu“. So wie die App, die der technikverliebte Busfahrer seinen Passagieren zeigt. Auf ihr können die Touristen sehen, was die kalte Stadt im Norden Finnlands sonst noch zu bieten hat.

Ein Beitrag von:

  • Eve Tsakiridou

    Eve Tsakiridou ist Journalistin und Podcasterin. Sie hat Biologie und Philosophie studiert und im Bereich Hirnforschung promoviert. Das redaktionelle Handwerkszeug lernte sie bei der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören u.a. Technologie und Wissenschaft.

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