Indien als verlängerte Werkbank
VDI nachrichten, Wiesbaden, 26. 10. 07, Fr – Europäische und amerikanische Firmen verlagern die Abwicklung betrieblicher Prozesse immer häufiger in asiatische Länder wie Indien oder China. IBM, SAP, Capgemini und auch Microsoft beschäftigen in modernen Computerzentren tausende von Spezialisten. Allein 300 000 Ingenieure verlassen in Indien jährlich die Universitäten, zu wenige für das sich rasant entwickelnde Land.
Manche Entwicklungen brauchen einfach Zeit. Und plötzlich sind die Voraussetzungen da.“ Mathias Weber, Bereichsleiter IT Services beim Branchenverband Bitkom in Berlin, spricht nicht über die wieder angezogene Konjunktur in Deutschland. Er blickt weit nach Osten, nach Russland, Indien und China. Dort könnte in wenigen Jahren die Mehrzahl der IT-Abteilungen deutscher Firmen sitzen. „Die Anbieter haben Erfahrungen gesammelt und Möglichkeiten gefunden, immer mehr zu standardisieren. Das schafft einen unglaublichen Kostenvorteil.“
Längst sind die Quartiere in Guangzhou und Bangalore auf den großen Ansturm vorbereitet. Gewaltige Computerstädte haben IBM, SAP, Capgemini, Microsoft und Accenture in den Unistädten Indiens und Chinas hochgezogen, tausende von jungen Softwarespezialisten, Betriebswirten und Ingenieuren eingestellt, ganze Flugzeugladungen mit interessierten Kunden nach Schanghai, Mumbai und Hyderabad eingeladen. Doch erst jetzt, 16 Jahre nach der wirtschaftlichen Öffnung Indiens und zehn Jahre nach der in China, beginnt sich der Aufwand zu rechnen.
Vor allem im großenteils englischsprachigen Indien: Nach anfänglichem Widerstand haben amerikanische und europäische IT-Anwender Vertrauen in die asiatische Werkbank gefasst. „Sie haben ihre Hausaufgaben gemacht und sind risikofreudiger geworden“, begründet Mathias Weber den Trend nach Osten. Dank voller Auftragsbücher kann sich manch einer das heute eher leisten als vor zwei Jahren. Viele Experten haben dem IT-Offshoring schon vor sechs, sieben Jahren eine große Zukunft vorausgesagt, und zunächst sah es auch tatsächlich ganz danach aus. Kurz nach der Jahrtausendwende, als IBM im Huckepackverfahren die Softwareentwicklung der Deutschen Bank nach Indien befördert hatte und sich halb Deutschland vor dem Tiger aus Eschnapur fürchtete, sorgte die „Kinder statt Inder“-Debatte bei sparsamen Finanzchefs für ein schlechtes Gewissen.
Der weltweite Börsencrash und die Anschläge auf das World Trade Center ließen die Globalisierungsträume kurzzeitig platzen – aber nur wenig später merkten die IT-Berater, wie wunderbar ihnen die Wirtschaftskrise in die Hand spielte. Überall musste gespart und Prozesse mit weniger teurem Personal bewältigt werden. Geduldig zückten sie erneut ihre indischen Trümpfe – Steuerfreiheit, Investitionszuschüsse, die niedrigen Stundensätze asiatischer Informatiker – und dieses Mal schlug ihnen niemand die Karten aus der Hand.
Die Folge: Seit drei, vier Jahren werden immer mehr betriebliche Aufgaben von einem Millionenheer gut ausgebildeter Inder und zunehmend auch Chinesen erledigt. Das „Kinder statt Inder“-Argument ist vom Tisch. Matthias Hartmann, Geschäftsführer von IBM Deutschland, sagt, wie heute gedacht wird: „Wir müssen in Deutschland mit globalen Kapazitäten arbeiten, um international wettbewerbsfähig zu sein.“ Das geht besonders leicht bei standardisierbaren Abläufen wie Call-Center-Betrieb, Operating, Research, Dokumentation und Softwareentwicklung. Beispiel Banking: Der amerikanische Finanzriese HSBC lässt seit 1990 in Indien für sich arbeiten. Inzwischen wird nahezu die Hälfte seiner Software von mehr als 20 000 Menschen in fünf Ländern Asiens geschrieben, getestet und betreut.
Ein weiteres Beispiel ist die Anwendungssoftware. Im Microsoft Global Delivery Center in Hyderabad, dem zweitgrößten des Konzerns, und in anderen Niederlassungen auf dem Subkontinent arbeiten heute schon 10 % aller Mitarbeiter – Tendenz schnell steigend. Und in der Verpackungsindustrie hat die schwedische Firma Tetra Pak Ende 2006 einen Sieben-Jahresvertrag mit Capgemini China über BPO (Business Process Outsourcing)-Services in Buchhaltung, Rechnungswesen und Finanzen abgeschlossen.
Eine vergleichbare Entwicklung fällt auch im Dokumentenmanagement auf. Immer mehr Unternehmen lagern ihre Printbereiche aus und lassen in Indien Dokumentationen und Bedienungsanleitungen erstellen und übersetzen. „In diesem Markt sind Kosteneinsparungen von bis zu 20 % möglich“, weiß der Frankfurter Personalberater Ilker Oezsoy.
Obwohl auch die Gehälter in Indien allmählich steigen, liegen die Stundensätze für indische Fachkräfte noch immer weit unter denen in Europa und in den USA. „Ein Informatiker frisch von der Hochschule kann mit etwa 200 € im Monat rechnen“, sagt Salil Parekh von Capgemini im Mumbai, „das macht die etwa 5 % Mehrkosten eines Outsourcing nach Indien für Kommunikation und Reiseaufwand mehr als wett.“ Während die Chinesen mit der englischen Sprache zu kämpfen haben und kaum international versierte Spezialisten heranziehen, drängt Indien seinen Nachwuchs mit Macht in die industrialisierte Welt. Von den rund 300 000 Ingenieuren und Informatikern, die dort jedes Jahr die Universitäten verlassen, machen Tausende ein Praktikum in den USA oder studieren dort weiter. Insgesamt arbeiten 1,2 Mio. Inder – bei einer Bevölkerung von 1,2 Mrd. Menschen – im inländischen IT-Sektor.
Ohne die Geburtshelfer der indischen IT-Industrie, die internationalen Software- und Beratungsgesellschaften, sähe das Bild freilich düsterer aus. IBM India ist mit rund 53 000 Mitarbeitern die zweitgrößte Landesgesellschaft des Konzerns nach den USA. Accenture hat 30 000 Mitarbeiter auf der Payroll, und Capgemini will bis 2010 rund 40 000 Inder beschäftigen. Die französische IT-Beratungsgesellschaft wird nach eigenen Angaben bereits im nächsten Jahr mehr Mitarbeiter in Indien unter Vertrag haben als in jedem anderen Land.
Weil sich die Kunden aus den USA und Europa immer schneller für Software und Prozess-Outsourcing Made in India erwärmen und weil die indischen IT-Konzerne stärker werden, sind die Studierenden an den Universitäten des Landes stark umworben. Die meist funkelnagelneuen Gebäudekomplexe der ausländischen BPO-Anbieter beherbergen neben Restaurants ausgedehnte Sportanlagen, Fitnesscenter, Bibliotheken, Kindergärten und Gesundheitszentren. „Wir müssen die Familien mitintegrieren“, erklärt S. Chandrasekhar, oberster HR-Manager von Capgemini in Indien, „denn die Familie ist uns Indern enorm wichtig.“
Zu Beförderungen und Auszeichnungen werden die Familienangehörigen stets miteingeladen: Sie sollen Teil haben am Stolz ihres Sohnes oder ihrer Tochter. Da sich indische Bewerber traditionell nur am Wochenende bei einem neuen Arbeitgeber vorstellen, sind die Interviews der Personalprofis sehr eng getaktet. Entsprechend professionalisiert und automatisiert ist die Vorauswahl anhand der Bewerbungsunterlagen. Bei Capgemini hat diese Standardisierung zu einem neuen Service-Angebot für die Kunden geführt: Weite Teile des Rekrutierungsprozesses und des Bewerberhandlings werden für Kunden in aller Welt von Indien aus gesteuert. CHRISTINE DEMMER
Gehälter in Indien sind noch immer sehr niedrig
Ein Beitrag von: