Ingenieure suchen ihr Glück in der Türkei
Seit Jahren steigt der Anteil an jungen, hoch qualifizierten Akademikern mit deutschen Pässen und türkischen Wurzeln, die in die Heimat ihrer Eltern auswandern. Genaue Zahlen existieren nicht, weil sie als Gruppe in keiner Abwanderungsstatistik auftauchen. Darunter sind auch Ingenieure, die für sich bessere Chancen im Herkunftsland ihrer Eltern sehen. VDI nachrichten, Hamburg, 4. 12. 09, cha
Nach Feierabend trifft man sich auf der Dachterrasse vom „Leb-i Derya“ im Szene-Viertel Beyoglu in Istanbul. An der Bar mit Blick über den Bosporus trinken Ibrahim Sigirci und sein Kunde, ein leitender Mitarbeiter eines internationalen Mobilfunkunternehmens, ihr Bier. „In Deutschland kommt es selten vor, dass man sich privat mit dem Kunden trifft“, sagt der Dormagener IT-Ingenieur. „Wenn man in der Türkei für einige Monate zusammengearbeitet hat, ist dasnormal.“ Dem 32-Jährigen gefällt dieser unkomplizierte Umgang. Er arbeitet als Berater für Securintegration, ein Kölner Unternehmen, das Sicherheitsleistungen anbietet. In deren Auftrag hat er die Istanbuler Geschäftsstelle aufgebaut, Kunden gewonnen, Projekte akquiriert und vier Mitarbeiter eingestellt. Erst kürzlich wurde er Teilhaber der neuen Firma und jettet seitdem jeden Monat für mehrere Tage an den Bosporus.
Ibrahim Sigirci ist auf dem Absprung. „Wenn die wirtschaftliche Lage sich bessert, ziehe ich nach Istanbul“, erzählt er und schaut ein über die Lichter der Stadt. Natürlich sei es schwer, Familie und Freunde in Deutschland zu verlassen. Aber Istanbul bietet viel. „Es ist eine Weltmetropole, du hast hier alles, was du brauchst“, sagt er. „Außerdem ist dies für mich eine einmalige Karrierechance.“
Er ist ehrgeizig. Der junge Mann aus einer kurdischen Arbeiterfamilie, der erst als 15-Jähriger mit Mutter und Schwestern zum Vater ins Rheinland gezogen ist und sich alleine durch den Dschungel von Haupt-, Handelsschule und Ausbildung bis zum Studium der Wirtschaftsinformatik durchgeschlagen hat, möchte weiterkommen.
Seit Jahren steigt der Anteil an jungen, hoch qualifizierten Akademikern mit deutschen Pässen und türkischen Wurzeln, die in die Heimat ihrer Eltern auswandern. Genaue Zahlen existieren nicht, weil sie als Gruppe in keiner Abwanderungsstatistik auftauchen. Der selbstständige Personalvermittler Ediz Bökli aus Osnabrück schätzt, dass allein im Jahr 2007 etwa 6000 Akademiker in die Türkei gegangen sind. „Die meisten gehen in die Westtürkei, hauptsächlich nach Istanbul“, erzählt Ediz Bökli. „Sie haben dort mehr Möglichkeiten, eine schnellere und bessere Karriere zu machen.“
In Deutschland, so haben Ibrahim Sigirci und seine Freunde und Studienkollegen mit türkischem Hintergrund erfahren, taucht eine gläserne Mauer auf. Das gelte auch für die IT-Branche, die so international erscheint. „Als Berater sind Herkunft oder Pass egal.
Aber wenn es darum geht, aufzusteigen und Verantwortung zu übernehmen, dann trauen sie einem auf einmal nicht mehr so viel zu“, erzählt er. Das ist in der Türkei anders. „Mit IT-Studium und Berufserfahrungen in Deutschland wird man auch in Management-Positionen eingestellt“, sagt Ibrahim Sigirci. Zudem schätzen viele Unternehmen eine bi-kulturelle Herkunft, immerhin ist Deutschland der Haupthandelspartner.
Obwohl die Zahl der Akademiker mit Migrationshintergrund steigt, haben sie es noch immer schwerer. Eine Studie der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OECD) ergab, dass Migranten drei- bis viermal so viele Bewerbungen schreiben müssen wie Deutsche, bis sie zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen werden.
Sind die türkischstämmigen Akademiker erst einmal im Unternehmen tätig, steigen sie seltener ins Management oder in Führungspositionen auf als ihre deutschen Kollegen. Weniger als 1 % dieser Positionen sind von türkischstämmigen Beschäftigten besetzt, obwohl sie 2,5 % aller Erwerbstätigen ausmachen.
Wenn die gut ausgebildeten Migrantenkinder in Deutschland keine Stelle finden – laut einer anderen OECD-Studie ist die Akademiker-Arbeitslosigkeit mit 18,9 % bei Zugewanderten doppelt so hoch wie bei in Deutschland geborenen Akademikern, – „dann orientieren sie sich eben woanders hin, beispielsweise in die Türkei, und nehmen dort die sich ihnen bietenden Möglichkeiten wahr“, erläutert Andreas Pott, Sozialgeograph am Institut für Migrationsforschung und interkulturelle Studien (IMIS) in Osnabrück.
Dabei sollen nach einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft im Jahr 2020 rund 230 000 Ingenieure, Naturwissenschaftler und Techniker fehlen. „Im Vordergrund steht die Integration der hier lebenden Migranten. Wir investieren zwar in die Ausbildung der Migrantenkinder, schaffen es aber nicht, sie auch im Land zu halten“, bestätigt Ilona Riesen vom Institut der deutschen Wirtschaft. „Das ist nicht nur bedauerlich im Hinblick auf die Einzelperson, sondern auch rein volkswirtschaftlich gesehen ein großer Verlust.“
So leiste sich das Land, „die stille Reserve der Migranten brachliegen zu lassen“, bringt es Kamuran Sezer auf den Punkt. Der ebenfalls türkischstämmige Geschäftsführer des Dortmunder Futureorg Instituts für angewandte Zukunfts- und Organisationsforschung hat in einer nicht repräsentativen Studie die Rückkehrabsichten türkischer Akademiker und Studenten in Deutschland (TASD) untersucht.
Demnach beabsichtigen knapp 40 % der jungen türkischen und türkischstämmigen Akademiker, in den nächsten Jahren in die Türkei zu ziehen, allen voran Mediziner und Ingenieure. Die Mehrheit der Auswanderungswilligen gab als Grund „fehlendes Heimatgefühl“ an, berufliche Gründe wurden an zweiter Stelle genannt.
Cihan Batman sitzt entspannt auf der Terrasse des Vodafone-Towers im Banken- und Geschäftsviertel Maslak in Istanbul. „Ich wollte es auf jeden Fall ausprobiert haben“, sagt der 40-jährige IT-Manager, der in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, sich heute als „europäischer Türke“ fühlt. Es war nicht in erster Linie die Karriere, die ihn nach Istanbul führte. Vielmehr wollte er auch seine andere, die „türkische“ Seite, kennenlernen.
Sollte das Heimweh nach Deutschland Cihan Batman oder Ibrahim Sigirci packen, dann können sie immer noch den Rückkehrerstammtisch besuchen, der jeden Monat in einem deutschen Restaurant in Beyoglu tagt. Da diskutieren dann rund 60 „Rückkehrer“ bei Currywurst mit Pommes über Bundesliga oder das Istanbuler Nachtleben.
Die meisten hier sehen ihre Zukunft in der Metropole am Bosporus. Dennoch – eine Rückkehr ist nicht ausgeschlossen. M. LUDWIG
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