Interview: Gewerbliche Schutzrechte 12.08.2011, 12:08 Uhr

„Jedes zweite Patent in Deutschland ist potenziell rechtswidrig!“

Das deutsche Patentrecht ist in die Jahre gekommen. Einige Regelungen und daraus resultierende Entwicklungen machen mittelständischen Unternehmern das Leben schwer. Über Auswege diskutierten Experten bei einem Round-Table-Gespräch in der Redaktion der VDI nachrichten.

VDI nachrichten: Hat das deutsche Patentsystem ein Qualitätsproblem?

Flocke: Ja! Patente werden zu oft nach dem Motto ,Masse statt Klasse“ vergeben. Das ist politisch gewollt. Würde die Zahl der Schutzrechte sinken, ginge ein Aufschrei durch die Medien. Eine neue Bildungsmisere würde heraufbeschworen.

Das Niveau der Schutzrechte wird außerdem schon deshalb nicht angehoben, weil ein Rückgang der Patentzahlen den Etat des Patentamts beschneiden würde. Von der ausufernden Patentflut profitiert eben auch das Patentamt. In diesem Interessenkonflikt wäre jeder Patentamtspräsident, der die Qualität der Schutzrechte ernsthaft anheben möchte, bald seinen Job los.

Eine höchst menschliche Reaktion der Patentprüfer verschärft die Lage zusätzlich: Patentanmeldungen, die sie zurückweisen, bescheren ihnen Mehrarbeit. Jeder dritte erfolglose Anmelder verlangt eine Erklärung für die Ablehnung. Da liegt es doch nahe, eine zweifelhafte Idee mit 4- zu bewerten und durchzuwinken. Die Prüfer werden sich zudem sagen: ,Es gibt ja noch die dreimonatige Einspruchsfrist. Wenn etwas nicht stimmt, dann wird sich die Industrie schon melden.“ Dabei verkennen sie: Das erteilte Patent entfaltet sofort seine mitunter verheerende Wirkung. Und ein Einspruch kostet schnell einige tausend Euro!

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Kurzum: Mittelständler werden sich darauf einstellen müssen, dass es immer mehr kleinteilige Patente geben wird, die ihnen das Überleben schwer machen.

Feldges: Ich sehe kein generelles Qualitätsproblem. Viel mehr haben wir ein Gerechtigkeitsproblem im deutschen Patentsystem. Ursache ist die Trennung von Verletzungsverfahren und Nichtigkeitsverfahren bei Patentstreitigkeiten. (Anm. der Red.: siehe Kasten). Dadurch wird ein Unternehmer, der angeblich ein wackeliges Patent verletzt, schnell auf Unterlassung verklagt – obwohl noch gar nicht über die Validität des Patents entschieden ist. Er muss seine Produkte dann im Falle der Verurteilung vom Markt nehmen, vernichten und sämtliche Kundendaten offenlegen. Das kann das Aus für seine Firma bedeuten. Besonders tragisch wird es, wenn das Patent im Nachhinein für nichtig erklärt wird. Dem Beklagten hilft die späte Genugtuung oftmals nicht mehr. Der Schaden ist irreparabel.

Verschärft wird die Situation dadurch, dass die Verletzungsgerichte sich bemühen, immer schneller zu arbeiten. Da gibt es einen regelrechten Wettbewerb! Beim Bundespatentgericht hingegen, wo über die Nichtigkeit entschieden wird, geht es gleichbleibend ruhig zu. Vorläufige Stellungnahmen, wie sie die jüngste Novelle des Patentgesetzes eigentlich vorsieht, werden von den zuständigen Senaten nur zögerlich abgegeben.

Meiner Meinung nach müsste in mehr Fällen der Verletzungsprozess ausgesetzt werden, solange der Nichtigkeitsprozess nicht entschieden ist. Eine solche Aussetzung wird von den Verletzungsgerichten aber nur zögerlich ausgesprochen. Das gilt vor allem für das Landgericht Düsseldorf. Man kann den Eindruck gewinnen, dass der Standort dadurch für Kläger attraktiver gemacht werden soll. Zahlen sprechen hier eine klare Sprache: In Düsseldorf werden inzwischen über 50 % aller Verletzungsverfahren aus Deutschland entschieden!

Keller: Ich plädiere für einen Paradigmenwechsel im deutschen Patentrecht. Ursprünglich hatte das Patentrecht zwei Ziele: Es sollte den Erfinderlohn sichern und die Gesellschaft durch Offenbarung von technischem Wissen bereichern. Dahin müssen wir zurück.

Nehmen wir den Bereich der softwarebezogenen Patente. Heute befindet sich in nahezu jeder komplexen Telefonanlage eine Software. Die Softwarelösung ist jedoch in einem Speicherbaustein im Binärcode verborgen. Eine Freilegung der technischen Lösung wie beim Zerlegen einer Textilmaschine aus dem 19. Jahrhundert ist nicht möglich. Ein Patentschutz zur Sicherung des Erfinderlohns ist deshalb nicht notwendig.

Hinzukommt, dass Patentschriften heute oftmals möglichst schwammig formuliert sind, um den Schutzbereich im Streitfall großzügig auslegen zu können. . Im Softwarebereich finden Sie in den Patentschriften in der Regel keine Zeile Quellcode. Hier ist der Offenbarungsgehalt äußerst gering. Ein Patent darf kein Selbstzweck sein. Nur in den Bereichen, wo zur Sicherung des Erfinderlohns der Patentschutz notwendig ist, ist er auch gerechtfertigt. Schließlich ist ein Patent ein Eingriff in das liberale Wirtschaftssystem. Inhaber bekommen ein Monopolrecht – für bis zu 20 Jahre! In diesem Sinne rege ich den Begriff der „Patentsparsamkeit“ an. Der Staat muss den Paradigmenwechsel einleiten. Es sollte nicht länger begründet werden müssen, warum ein Patent abgelehnt wird. Eine Erteilung sollte einer Erklärung bedürfen!

Feldges: Von ,Patentsparsamkeit“ halte ich nichts. Das Patentwesen hat sich doch als Motor für die wirtschaftliche Entwicklung erwiesen. Patentierung schafft Anreize zu Innovationen! Was wir wirklich brauchen ist eine verlässliche Rechtsprechung, die nicht alle drei Jahre geändert wird. Es muss klar definiert werden, welche erfinderische Höhe Voraussetzung für ein Patent ist.

Cohausz: Wir brauchen nicht weniger Patente, wir brauchen mehr! Ohne Patente müsste sich der technische Fortschritt verstecken. Je mehr Patente, desto größer ist der Fortschritt – auch wenn viele der Schritte nur klein sind. Limitiert wird die Patentflut ganz automatisch durch die Kosten eines Patents. Ein Unternehmen wird regelmäßig genau überlegen, welche Ideen die besten sind – und einen Patentschutz wert sind. In dieses Marktspiel sollte der Staat nicht eingreifen. Immer wenn der Staat in etwas eingreift, wird es doch fürchterlich. Japan beweist, dass eine Patentflut beherrschbar ist. Dort werden dreimal so viele Patente angemeldet wie in Deutschland. Und da gibt es keine Probleme.

Flocke: Dort sind die Ideen aber auch ganz klar umschrieben – bis zur kleinsten Schraube. Hier hingegen wird schwammig formuliert – aus bereits genannten Gründen. Das allein wäre noch nicht mal problematisch. Es kann doch sowieso kein Mensch mehr die gesamte Patentblase überblicken! Schwierig wird es, wenn die Patentflut auf die aktuelle Rechtsprechung trifft – Stichwort Gerechtigkeitsproblem. Dann wird das Patentrecht zur echten Bedrohung für Mittelständler!

Cohausz: Das sehe ich anders. Ich behaupte, dass sich 50 % aller erteilten Patente wieder zu Fall bringen lassen – eine intensive Recherche, die etwa 20 000 € kostet, vorausgesetzt. Ein weiterer großer Teil der störenden Patente lässt sich umgehen. Am Ende bleibt höchstens ein Viertel der Patente bestehen, die Unternehmern das Leben schwer machen können. Bei den sogenannten Trivialpatenten sind es sogar höchstens 10 %.

Flocke: Das klingt so, als bräuchte ich nur einen guten Patentanwalt – und entsprechend viel Geld. In der Praxis erleben wir aber immer wieder, dass Mittelständler Opfer des Gerechtigkeitsproblems werden.

Cohausz: Hintergrund ist, dass zu spät recherchiert und zu spät nach Umgehungsmöglichkeiten gesucht wird.

Feldges: Bei der verspäteten Recherche gebe ich Ihnen recht. In Sachen Umgehung wird es allerdings problematisch. Sie können nie sicher sein, ob insbesondere das LG Düsseldorf nicht plötzlich irgendwas in den Schutzbereich inkludiert, was sie bei normalem Sprachverständnis nie erwartet hätten.

Keller: Wenn 50 % des Patentbestands durch Recherchen wegen fehlender Neuheit vernichtet werden können, bedeutet dies: Jedes zweite Patent ist rechtswidrig! Das muss als Staatsversagen betrachtet werden. Jetzt kann man natürlich sagen, dass der Staat auch an anderen Stellen nicht fehlerfrei funktioniert. Das schneidige aber ist: Patente entfalten eine brachiale Wirkung. Aus einem rechtswidrigen Patent kann man einen Angriff führen – und gewinnen. Die Schäden, die auf der Gegenseite entstehen, kriegt der Beklagte nie ersetzt. Es ist schlicht nicht zu beziffern, wie groß der Schaden ist, wenn ein Unternehmen für die Dauer des Nichtigkeitsverfahrens – drei bis fünf Jahre – sein Produkt nicht produzieren und vermarkten darf. Deshalb müssen wir am Prinzip der Aussetzung etwas ändern. Wir müssen dafür sorgen, dass aus rechtswidrigen Verwaltungsakten keine Verurteilungen mehr entstehen können.

Flocke: Wenn 50 % aller Patente rechtswidrig sind, dann müssen wir zumindest dafür sorgen, dass derjenige, der aus einem solchen Patent heraus angreift, dafür später ggf. blutet. Die Aggression muss ein Risiko bleiben und ggf. richtig wehtun hinterher.

Cohausz: Die 50 % sind nicht wirklich rechtswidrig – sie sind vielmehr nicht rechtsbeständig. Kein Prüfer der Welt kann so sorgfältig recherchieren, dass er garantiert nichts übersehen hat.

Flocke: Dann muss man eben grundsätzlich aussetzen! Ich werde doch sonst mit 50 % Wahrscheinlichkeit für etwas verurteilt, was ich nicht getan habe!

Feldges: Moment! Wir sollten nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Es hat durchaus seine Berechtigung, dass eine Aussetzung nur in Ausnahmefällen ausgesprochen wird. Schließlich ist ein Patent ein zeitlich limitiertes Monopol. Wenn dieses nun während des regelmäßig mehrere Jahre dauernden Nichtigkeitsverfahrens aufgehoben wird, stehen den Nachahmern alle Türen offen. Das hätte böse Folgen. Die Pharma-branche macht das deutlich: Wenn der Markt für Generika-Hersteller geöffnet wird, dann stürzen die sich darauf wie die Piranhas. Sie zerstören die Preise – und zwar nachhaltig.

VDI nachrichten: Wie kann denn das Gerechtigkeitsproblem gelöst werden?

Feldges: Das Patentgericht muss endlich seiner Aufgabe nachkommen, kurzfristig nach Eröffnung des Verletzungsverfahrens eine fachkundige Stellungnahme an das Verletzungsgericht zu senden. Es muss also schnellstmöglich erklären, in welche Richtung ein etwaiges Nichtigkeitsverfahren gehen würde. Diese Information könnte die Entscheidung für oder wider Aussetzung deutlich vereinfachen.

Keller: Der Gesetzgeber muss klare Vorgaben machen, wann ein Patentverletzungsprozess ausgesetzt wird. Die Landgerichte dürfen diesbezüglich keinen Ermessungsspielraum haben. Es muss klare Kriterien geben. Diese müssten sich an den bedrohten Rechtsgütern der Beteiligten orientieren. Die Tendenz sollte immer Richtung Aussetzung gehen. Ausnahmen sind z. B. in der Pharmabranche denkbar.

Cohausz: Aus einem zweifelhaften Patent sollte nicht schon nach dem Urteil der ersten Instanz – dem Landgericht – ein Verbietungsrecht geltend gemacht werden dürfen. Das sollte erst nach der zweiten Instanz – dem Oberlandesgericht – zulässig sein.

VDI nachrichten: Das Gerechtigkeitsproblem ist ja nicht zuletzt auch eine Folge des Qualitätsproblems: Je mehr zweifelhafte Patente es gibt, desto häufiger wird gestritten. Wie also kann die Qualität der Patente erhöht werden?

Cohausz: Ich halte die Qualitätsdebatte für überzogen. Einem Unternehmen kann es doch egal sein, wenn ein Wettbewerber etwas Unsinniges anmeldet. Um Streitigkeiten zu vermeiden, könnte man höchstens die Patentämter auffordern, tiefer zu recherchieren. Dazu braucht es mehr Personal. Das würde sich aber durch zusätzliche Gebühreneinnahmen selbst finanzieren.

Keller: Helfen würde auch ein Blick ins allgemeine Verwaltungsrecht. Es garantiert effektiven Rechtsschutz für die von einem Verwaltungsakt Betroffenen. Durch die Anordnung der aufschiebenden Wirkung bei einer Klage gegen eine Baugenehmigung, kann die Baustelle zum Ruhen gebracht werden. Nur dem alten Patentrecht – es stammt noch aus der Kaiserzeit – fehlt eine solche Regelung. Da fehlt es an Rechtsstaatlichkeit!

Feldges: Erfinder könnten außerdem dazu gezwungen werden, den ihnen bekannten Stand der Technik bei einer Patentanmeldung zu dokumentieren. Wer etwas wissentlich verschweigt, muss bestraft werden. Wer also ein Patent anmeldet, obwohl er neuheitsschädliche Erfindungen kennt, sollte sein Monopolrecht nachträglich verlieren. In den USA wird es so gehandhabt.

Außerdem müsste überlegt werden, wie Dritte dazu animiert werden können, schon während des Anmeldeprozesses einen ihnen bekannten Stand der Technik zu melden. Aktuell wären sie mit einer solchen Intervention schlecht beraten. Der Anmelder könnte die Information nämlich für seine Anmeldung nutzen. Er könnte den Schutzbereich leicht modifizieren – und so doch noch zu seinem Patent kommen. Deshalb müssen interessierte Dritte mit ihrer Eingabe bis zur Erteilung warten. Dann aber schließt sich das lange Nichtigkeitsverfahren an mit allen bereits geschilderten Gefahren.

Verbesserungspotenzial sehe ich auch bei den Recherche-Tools in den Patentämtern.

Und – last but not least – sollten die Mindestanforderungen an die erfinderische Tätigkeit wieder heraufgesetzt werden. Es kann nicht sein, dass für kleinste Geistesblitze Patente erteilt werden. Raise the bar!

Flocke: Dem letzten Argument stimme ich vorbehaltlos zu! Ich will nicht, dass unternehmensinterne Patentabteilungen am Ende kreativer sind als die Entwicklungsabteilungen. Patente bringen uns nämlich langfristig keine Brötchen – wir brauchen echte Innovationen!

Ein Beitrag von:

  • Stefan Asche

    Stefan Asche

    Redakteur VDI nachrichten
    Fachthemen: 3-D-Druck/Additive Fertigung, Konstruktion/Engineering, Logistik, Werkzeugmaschinen, Laser

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