Löhne und Lohnerhöhungen: Einfluss von Wachstum und Verbraucherpreisen
Dass bei Lohnverhandlungen die Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität eine zentrale Rolle spielen muss, ist unter Fachleuten unbestritten. Keine Einigkeit herrscht aber darüber, in welcher Höhe das Produktivitätswachstum ausgeschöpft werden dürfe und ob auch die Verbraucherpreise eine Rolle spielen sollen.
Lohnerhöhungen nimmt jeder gerne mit, Lohnverhandlungen dagegen werden oft mit einer Mischung aus Ablehnung und Unverständnis betrachtet. Sie gelten als ritualisierte Machtdemonstrationen von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden. Die Kosten dieser Lohnfindung ließen sich nach Ansicht von Ökonomen vermeiden, wenn die Tarifparteien zentrale wirtschaftliche Kennziffern zur Kenntnis und daraus eine Lohnerhöhung ableiten würden.
Doch eine solche Tarifpolitik mit dem Rechenschieber ist eine Illusion, sagen Fachleute wie Hagen Lesch vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln und Reinhard Bispinck vom gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf. Dass die gesamtwirtschaftliche Produktivität in Lohnrunden eine wichtige Rolle spielt, ist zwischen Tarifparteien und Wissenschaft nicht strittig. Aber sie ist nur ein Kriterium und sie wird unterschiedlich gewichtet.
Gesamtwirtschaftliche Produktivität entscheidend für Löhne und Lohnerhöhungen
Auch für Lesch ist die zu erwartende gesamtwirtschaftliche Produktivität die entscheidende Richtgröße. Wenn Löhne im gleichen Umfang steigen wie die Produktivität, bleiben die Lohnstückkosten gleich, Lohnerhöhungen führen dann nicht zu steigenden Preisen.
Die Orientierung an der gesamtwirtschaftlichen Produktivität lasse Raum für Anpassungen an die Lage auf dem Arbeitsmarkt und an die Produktivitätsentwicklung der jeweiligen Branche, sagt der IW-Experte. So sollten Lohnerhöhungen bei hoher Arbeitslosigkeit unter dem Produktivitätszuwachs bleiben, um Chancen für mehr Beschäftigung zu schaffen. In der Industrie könnten Entgeltsteigerungen auch mal höher ausfallen, weil dort die Produktivität oft stärker steige als im Schnitt der Gesamtwirtschaft. Umgekehrt bedeute das für Branchen mit geringeren Produktivitätszuwächsen auch geringere Lohnsteigerungen.
Keine Rolle dürfe bei Lohnrunden nach Ansicht von Lesch der Ausgleich für gestiegene Verbraucherpreise spielen. In die Verbraucherpreise gingen auch Preiserhöhungen ein, die von Unternehmen nicht zu beeinflussen seien, z. B. Rohstoffpreise oder staatlich festgesetzte Preise für Sozialbeiträge, Gebühren und Abgaben. Allenfalls, so Lesch, könnten solche Preissteigerungen berücksichtigt werden, die von den Unternehmen überwälzt werden können, z. B. die inländischen Erzeugerpreise oder die Ausfuhrpreise. Und die lagen in den vergangenen zehn Jahren meist unter den Verbraucherpreisen.
Ausgleich für steigende Verbraucherpreise bei Löhnen
Doch ein Ausgleich für steigende Verbraucherpreise ist für Reinhard Bispinck vom WSI essentiell. Damit werden Löhne gegen den Verlust an Kaufkraft abgesichert. Zusammen mit der gesamtwirtschaftlichen Produktivität, die eine Teilnahme am wirtschaftlichen Fortschritt erlaubt, bilde der Anstieg der Verbraucherpreise den Spielraum, der gesamtwirtschaftlich bei Lohnverhandlungen mindestens ausgeschöpft werden könne, sagt Bispinck.
Der Ökonom orientiert sich dabei an der Trendproduktivität, wie sie sich mittelfristig entwickeln soll, und als Untergrenze an der Ziel-Inflationsrate der Europäischen Zentralbank von 2 % im Jahr. Die Einbeziehung der Lebenshaltungskosten zusätzlich zur gesamtwirtschaftlichen Produktivität geht zurück auf den Frankfurter Ökonomen Helmut Meinhold. Nur so blieben die Verteilungsrelationen zwischen Kapital und Arbeit gleich. Diese Formel hat Meinhold als Schlichter in den 60er-Jahren begründet. Seither spielt sie in der Tarifpolitik eine zentrale Rolle.
Wäre diese Formel in den vergangenen zehn Jahren angewendet worden, hätte es gesamtwirtschaftlich eine Steigerung der Entgelte um rund 3,5 % im Jahr geben müssen, sagt Bispinck. „Davon sind wir meilenweit entfernt – von einer Umverteilungskomponente ganz zu schweigen.“
Gewerkschaften: Umverteilungskomponente soll Löhne stärker steigen lassen
Eine solche Komponente, die von Gewerkschaften immer wieder in ihre Tarifforderungen aufgenommen wurde, geht über den verteilungsneutralen Spielraum hinaus und soll die Löhne stärker steigen lassen als Gewinne und Unternehmereinkommen. Dass der verteilungsneutrale Spielraum gesamtwirtschaftlich in den vergangenen Jahren nicht ausgeschöpft wurde, hat nach Ansicht von Bispinck mehrere Ursachen: die Ausbreitung von prekärer Beschäftigung und Niedriglöhnen, die rückläufige Tarifbindung sowie die Entstehung von Branchen, in denen Arbeitnehmer schwer zu organisieren seien. Dieser Schwächung der Gewerkschaften stehe auf Arbeitgeber-Seite die sinkende Bereitschaft zur Tarifbindung gegenüber.
In Lohnverhandlungen spielen daher nicht nur die unterschiedlichen tarifpolitischen Vorstellungen der Kontrahenten eine Rolle, sagt Bispinck. Auch die Frage, mit welcher sozialen Unterstützung die beiden Parteien bei ihrer Mitgliedschaft rechnen können, beeinflusst den Ausgang von Tarifrunden. Tarifpolitik sei immer auch ein sozialer Verteilungskonflikt.
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