Menschen mit Behinderung sind keine halben Arbeitskräfte
Manche Firmen zahlen lieber eine Ausgleichsabgabe, bevor sie Menschen mit Behinderungen einstellen. Dabei sind diese – an der geeigneten Stelle eingesetzt – vollwertige Mitarbeiter eines Unternehmens.
„Behinderung? Den Begriff kennen wir nicht“, sagt Detlef Ammermann. Er ist seit 22 Jahren bei der Daimler AG tätig und leitet die Montage des SL Roadsters im Mercedes-Benz-Werk Bremen. Hier ist er für rund 200 Mitarbeiter verantwortlich.
Jeder zehnte von ihnen hat eine Form der Schwerbehinderung, jeder fünfte eine sogenannte „Einsatzeinschränkung“, etwa Probleme mit der Rücken- oder Fingermuskulatur. In diesen Fällen gilt es, den passenden Arbeitsplatz zu finden – „am besten einen, an dem die jeweilige Beeinträchtigung gar nicht mehr ins Gewicht fällt“, sagt Ammermann.
Ein taubstummer Kollege sei so lange nicht eingeschränkt, wie er in Bereichen arbeitet, wo Geräusche keine Rolle spielen. Beim Einsatz der Mitarbeiter helfen dem Team eigens erstellte Jobprofile, die den Schweregrad jeder Arbeit beschreiben und Fragen klären wie: Müssen sich die Mitarbeiter in diesem oder jenem Bereich bücken oder die Arme ausstrecken? Erfordert diese oder jene Tätigkeit das Tragen von schweren Lasten? Die einzelnen Anforderungen werden dann auf die individuelle Verfassung der Angestellten abgestimmt. So kann jeder Mitarbeiter an dem Arbeitsplatz eingesetzt werden, der seinen Fähigkeiten entspricht.
Kleine und mittelständische Unternehmen stellen weniger Menschen mit Behinderung ein
Daimler fördert nach eigenen Angaben die Vielfalt in der Belegschaft gezielt. Der Anteil an Schwerbehinderten liegt im Unternehmen bei 5,7 %. Die Deutsche Telekom hat 6,3 % ihrer Stellen mit schwerbehinderten Menschen besetzt.
In Unternehmen, die bis zu 250 Mitarbeiter beschäftigen, beträgt der Anteil laut Bundesagentur für Arbeit im Schnitt knapp 3,4 %. Gesetzlich vorgeschrieben ist allerdings für Firmen mit mehr als 20 Mitarbeitern eine Mindestquote von 5 %. Diese Vorgabe orientiert sich auch an der UN-Behindertenrechtskonvention: Ihr Hauptanliegen ist die Inklusion – das selbstverständliche Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung. Hierzu gehört eben auch die gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsmarkt. Unternehmen, die die besagten 5 % nicht erfüllen, zahlen eine Ausgleichsabgabe, die je nach Beschäftigungsquote zwischen 115 € und 290 € im Monat liegt.
Menschen mit Behinderung bieten Unternehmen große Chancen
Gesetzliche Richtlinien und gesellschaftliche Verantwortung sind das eine, ein anderes Augenmerk von Arbeitgebern liegt auf der Produktivität. Auch in dieser Hinsicht ist es ratsam, auf Menschen mit Behinderung zu setzen: „Ihre Ausbildungen und fachlichen Qualifikationen decken alle Möglichkeiten ab“, sagt etwa Sascha Decker von der Aktion Mensch. „Für Unternehmen bieten sich große Chancen, hoch kompetente und spezialisierte Kräfte anzuwerben.“
Das gilt vor allem in Zeiten von Fachkräftemangel und demografischem Wandel. Dass aber vor allem kleine und mittelständische Betriebe Schwierigkeiten mit der Beschäftigung von behinderten Menschen haben, leuchtet Sascha Decker ein: „Sie verfügen häufig nicht über die Erfahrung oder die entsprechenden Experten zum Thema Inklusion.“ In diesen Fällen könnten Dienstleister individuelle Lösungskonzepte erarbeiten und Firmen für einen begrenzten Zeitraum beratend zur Seite stehen.
Die örtlichen Fachdienste des Integrationsamts im Landschaftsverband Rheinland (LVR) sind solche Dienstleister. Sie fördern, beraten und unterstützen Arbeitgeber im Rheinland, die behinderte Menschen einstellen möchten – sei es aus gesellschaftlicher Verantwortung, aus Mangel an Fachkräften oder weil ihnen schlichtweg die Ausgleichsabgabe zu schaffen macht.
Jobs für Menschen mit Behinderung: Unternehmen können sich kostenlos beraten lassen
Die Dienstleistungen sind für Firmen und betroffene Personen kostenfrei. Ein Thema, mit dem die LVR-Mitarbeiter bei ihrer Arbeit konfrontiert werden, ist Unwissenheit: So verstünden manche Unternehmer unter dem besonderen Kündigungsschutz, dass sie einem schwerbehinderten Mitarbeiter niemals kündigen dürfen, sagt Klaus-Peter Rohde vom LVR-Integrationsamt. „Dieses Gerücht hält sich hartnäckig.“
Aufklärung ist gefragt: „Wir reden über Menschen mit unterschiedlichen Erkrankungen und Fähigkeiten. Wenn man die richtige Person am passenden Arbeitsplatz einsetzt, wirkt sich eine Behinderung nicht aus. Das versuchen wir, Arbeitgebern klarzumachen“, so Rohde.
Wie zäh sich die Arbeitssuche selbst für Ingenieure gestalten kann, weiß Gabriel Schneider: Unzählige Bewerbungen hat er nach Abschluss seines Maschinenbaustudiums geschrieben, auf seine Nachfrage hin bekam er Floskeln zu hören: Ein anderer Bewerber sei aufgrund der Qualifikation besser geeignet gewesen. Solche Absagen erhielt er kurz nach einem schweren Kletterunfall, durch den er querschnittsgelähmt wurde. Wenn heute von Ingenieurmangel die Rede ist, klingt das für ihn wie Hohn. Inzwischen arbeitet der 38-Jährige bei einem Messebauer.
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