Wer Stress wegschluckt, schwebt in Suchtgefahr
Die Pille ist schnell geschluckt, das Glas rasch geleert. Doch die alltäglichen kleinen Helfer gegen Stress und Druck im Job können schnell süchtig machen. Daher sollten Unternehmen und Angestellte beizeiten gegensteuern, sodass erst gar nicht zu dem Leistungsturbo aus dem Medizin- oder Kühlschrank gegriffen wird. Denn das löst keine Probleme, sondern verschlimmert sie.
Das kleine Leistungstief wird weggeschluckt, sich über den Stress hinweggedopt und die Erschöpfung betäubt. Doch der Griff zu Medikamenten und Suchtmitteln ist ein Spiel mit dem Feuer, auf das sich viele Angestellte wider besseren Wissens einlassen. „Die Arbeitsdichte hat zugenommen. Innere Ansprüche und äußere Anforderungen wachsen. Ein Druck entsteht, dem nicht jeder gewachsen ist“, sagt Götz Mundle, Chefarzt und Ärztlicher Direktor der Oberberg-Kliniken, in denen Depressionen, Angst, Burn-out und Abhängigkeitserkrankungen behandelt werden.
Zu den Drogen der Arbeitswelt zählen nicht nur Alkohol und Medikamente
Viele süchtige Angestellte und Führungskräfte, die in der Klinik therapiert werden, leiden unter chronischem Stress, dem sie nicht mehr durch Entspannen und Abschalten begegnen können, sondern zu den typischen Drogen der Arbeitswelt greifen. An erster Stelle steht nach wie vor Alkohol. An zweiter Medikamente und Beruhigungsmittel, berichtet Mundle. Wem das zeitknapp gestrickte Projekt auch noch abends im Bett herumspukt, der greift nicht selten zu Beruhigungsmitteln wie Valium oder dem Schlafmittel Noctamid. An dritter Stelle finden sich leistungssteigernde Präparate wie Ritalin, das zum „Hirndoping“ eingeworfen wird, oder Wachmacher oder auch Antidepressiva, die als Fitmacher dienen sollen.
„Diese Mittel mögen zwar kurzfristig zu mehr Leistung führen, aber auch zu mehr Fehlern bei der Arbeit und langfristig zu Abhängigkeit“, sagt Mundle. Dazu kommt, dass sie die Persönlichkeit verändern, Konsumenten angespannt, reizbar und aggressiv werden lassen.
Frappierend für Mundle ist, dass es inzwischen eine hohe Bereitschaft gibt, berufliche Probleme einfach wegzuschlucken. Er verweist auf eine Umfrage der Deutschen Angestellten Krankenkasse aus dem Jahr 2009, nach der zwei Drittel der befragten Berufstätigen bereit ist, Medikamente zu nehmen, um leistungsstärker zu werden – sofern sie keine Nebenwirkungen befürchten müssen. „Schließlich scheint es ja für jedes Befinden ein Mittel zu geben“, sagt Mundle. Und das ist zudem sehr diskret, weil es keine Alkoholfahne oder glasige Augen hinterlässt. Dafür aber rasch in einen Teufelskreis mündet, aus einem Mix von Medikamenten für das Abschalten, Einschlafen, Aufputschen, Konzentriertbleiben und Entspannen.
“Ihnen ist nie gut genug, was sie tun”
Klassische Risikogruppen, die für arbeitsbedingte Süchte empfänglich sind, sieht Mundle nicht. Eine Gemeinsamkeit gestresster Süchtiger kennt er jedoch aus der Praxis: „Ihnen ist nie gut genug, was sie tun.“ Meist seien diese Menschen fachlich äußerst kompetent und intelligent, doch irgendwann im Laufe ihrer Karriere muss ihnen die emotionale Fähigkeit abhanden gekommen sein, in sich selbst hineinzuhören, eigene Grenzen und Schwächen anzuerkennen. „Die Persönlichkeit tritt in den Hintergrund, im Vordergrund steht das Fachliche. Betroffene haben den Bezug zu sich, ihrer Intuition und ihrer inneren Stimme verloren“, erklärt Mundle.
Die innere Stimme versagt folgerichtig auch beim Konsum von Suchtmitteln, der oft bagatellisiert und verleugnet wird. „Deshalb müssen vor allem Führungskräfte früh und konsequent handeln, wenn ihnen Mitarbeiter auffallen“, sagt Dominik Hammer, Psychologe und Suchtbeauftragter beim TÜV SÜD. Das ist eine heikle Angelegenheit, für die es viel Fingerspitzengefühls bedarf.
Die Sucht von Kollegen zu decken, ist der falsche Weg
Auch für Krankenkassen wie die Barmer steht das Thema längst auf der Agenda: „In Zeiten turbulenter Umbrüche in der Arbeitswelt versuchen viele Beschäftigte, Hektik und Stress im Arbeitsleben mit Suchtmitteln zu bewältigen“, sagt Rüdiger Meierjürgen, Leiter Prävention bei der Barmer GEK. „Hier müssen Unternehmen gegensteuern und betriebliche Suchtprogramme auflegen.“ Das empfiehlt auch Psychologe Hammer. Dazu zähle, in der Belegschaft ein Gespür zu entwickeln, wann der Kollege möglicherweise ein Suchtproblem hat. Hammer empfiehlt bei guten Beziehungen ein offenes Gespräch, das dem Betroffenen sein auffälliges Verhalten vor Augen führt. Fruchtet das nicht, sollte der Vorgesetzte eingeschaltet werden. Auf keinen Fall sollte man den Mitarbeiter decken, indem man ihm etwa Arbeit abnimmt. Hammer: „So würde nur die Selbsttäuschung und damit das Suchtverhalten stabilisiert werden.“
Gerade eine gesunde Teamkultur, die Wertschätzung einzelner Mitarbeiter, deren Beteiligung an Entscheidungen und der offene Umgang mit Konflikten sind für Mundle unternehmensseitig wertvolle Bausteine einer Suchtprävention. Doch auch jeder Mitarbeiter kann vorbeugen, indem er für einen Ausgleich zur Arbeit durch Hobbys, Sport, Freunde und stabile private Beziehungen sorgt. Im Job helfen kurze Entspannungsübungen, was auch eine Flut von Gedanken auslösen wird, die dabei helfen, Fragen zu beantworten wie: Wie gestresst bin ich? Was kann und muss ich ändern? Das hilft zu lernen, dass Stress nichts Negatives ist, solange Entspannung möglich ist. Denn die erleichtert mehr als jede Droge.
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